Die Jazzmusikerin Jutta Hipp

Unverschämt cool

Sie war die erste Europäerin, die vom legendären US-amerikanischen Jazz-Label Blue Note unter Vertrag genommen wurde: Jutta Hipp. Ihre Karriere war kurz, nach Deutschland kam die Pianistin nie zurück.

Als Art Blakey in den späten fünfziger Jahren realisiert, dass sich Jutta Hipp, die bereits in der Vergangenheit scharf von ihm kritisiert wurde, in dem Club befindet, in dem er gerade auftritt, sieht er seine Chance gekommen. Er zitiert die Pianistin, die schon einige Drinks intus hat, auf die Bühne und komplimentiert sie ans Klavier. Dann zählt er die nächste Nummer in einer Höllengeschwindigkeit an. Jutta Hipp, von Lampenfieber und Minderwertigkeitskomplexen verunsichert, kann das Tempo nicht halten. Der Schlagzeuger und Bandleader Blakey schlussfolgert: »Now you see, we don’t want these people from Germany come over here and take our jobs away.« Blakey demütigt die 1925 in Leipzig geborene Musikerin gleich dreifach: als Künstlerin, als Weiße und als Frau.
Dabei hatte das Abenteuer USA für die unkonventionelle Pianistin gut begonnen. Jutta Hipp war auf Initiative des Produzenten und Impresarios Leonard Feather Ende 1955 in die Vereinigten Staaten übergesiedelt. Feather hatte sie rund zwei Jahre zuvor in mehreren deutschen Jazzclubs, unter anderem im Duisburger Bohème, dem als Milchbar getarnten Jazzkeller des Produzenten Pierluigi »Gigi« Campi, spielen hören. Für die kaum 30 Jahre alte Pianistin muss es überwältigend gewesen sein, als sie am 18. November 1955 am Pier 88 in Manhattan anlegt und von Bord der S. S. New York geht: New York, seine Clubs, Jazz, Hipps Lebenselixier und späterer Fluch.
Jutta Hipp gelingt etwas Außergewöhnliches, sie ist die erste Europäerin, erste Frau und erst zweite Weiße, die vom aufstrebenden Blue-Note-Label von Alfred Lion und Francis Wolff, als gebürtige Berliner ebenfalls Migranten, unter Vertrag genommen wurde. Drei Alben unter ihrem Namen spielt sie für das Label ein, die ersten beiden werden am 5. April 1956 im Hickory House aufgezeichnet, einem legendären Jazzclub an der 52nd Street in Manhattan. Ironischerweise wird das mehrmonatige Engagement dort nur möglich, weil sich die eigentlich dort gebuchte Pianistin, die Britin Marian McPartland, auf Tournee begibt. Hipp tritt im Trio mit dem Bassisten Peter Ind und dem Schlagzeuger Ed Thigpen auf. Einige Monate später spielt sie dann im Studio das dritte Blue-Note-Album mit dem Tenorsaxofonisten Zoot Sims ein. Aber die Atmosphäre des Edeljazzclubs bedrückt sie, die amerikanische Szene ist ihr zu sehr auf die Show ausgerichtet, damit kann sie sich, auch wegen ihres enormen Lampenfiebers, das sie immer häufiger mit ­Alkohol in den Griff zu bekommen sucht, nicht arrangieren. Hinzu kommen musikalische Dif­ferenzen mit Feather, der ihr ihren veränderten Spielstil vorhält, das spezifisch Europäische mehr und mehr verwässert sieht. Ihre Karriere gerät schon bald ins Stocken.
Begonnen hatte alles in Leipzig, in den vierziger Jahren. Während des Zweiten Weltkriegs kam Jutta Hipp in Kontakt mit dem dortigen Hot Club, einer klandestinen Vereinigung von Jazz-Enthusiasten, der unter anderem der Schlagzeuger Teddy Neubert angehörte. Die Swing-Jugendliche schwärmt für Fats Waller, Teddy Wilson, Art Tatum und Count Basie. Junge Frauen wie Jutta Hipp werden für den Fort­bestand des Hot Club wichtig, weil die Männer nach und nach an die Front müssen. Parallel zu ihrer Leidenschaft für den Jazz widmet sie sich ihrem zweiten großen Talent, dem Zeichnen. Ab Ende 1942 studiert sie zwei Jahre an der Leipziger Kunsthochschule für Graphik.
Nach der Befreiung gründete Hipp gemeinsam mit ihrem Freund »Teddie« Frohwalt Neubert ihre erste Amateurband, den Lime City Swing Club, auch bekannt als Lindenstadt Swing Quintett, dessen prominentestes Mitglied Rolf Kühn war, der ältere Bruder des ­Pianisten Joachim Kühn. Gemeinsam mit Teddie und Thomas Buhé setzt sich Hipp aber schon im März 1946 in den Westen ab, die Bedingungen im Osten unter sowjetischer Kontrolle scheinen nicht eben ideal für junge Jazz-Enthusiasten. Ihre beiden Mitstreiter kehren bald nach Leipzig zurück, Hipp bleibt, sie bekommt erste Engagements in US-amerikanischen Ca­sinos, geht nach München, bekommt einen Sohn von einem afroamerikanischen GI und gibt ihn zur Adoption frei. Kindererziehung und ihr anstrengender Beruf lassen sich nicht verbinden, zudem werden Beziehungen zwischen afroamerikanischen Soldaten und weißen Frauen wenn nicht direkt sanktioniert, so doch gesellschaftlich geächtet. In München spielt Jutta Hipp unter anderem mit Max Greger und Freddie Brocksieper, sie lernt Hans Koller kennen und Attila Zoller, ihren späteren Verlobten, die Verbindung hält aber nicht lange.
Koller engagiert Jutta Hipp für sein neues Quartett, dass die modernste europäische Variante des Cool Jazz spielte, die man damals zu hören bekam. Der Sound schwappt auch ins Mutterland des Jazz: 1953 bekommt »Hans is hip« – Wortspiele waren im Jazz seit eh und je beliebt – etwas verspätet als erste europäische Platte die Höchstwertung von fünf Sternen im Magazin Downbeat. Die Talentscouts horchen auf. Wer ist diese junge Pianistin, die den Sound der Combo entscheidend prägt, die diese unverschämt lässige und coole Art des Klavierspiels beherrscht? Der Name des Jazzmusikers Lennie Tristano fällt häufig. Aber Jutta Hipp ist anders, sie kopiert nicht bloß, sie ist eigen. Das macht sie so interessant.
Insbesondere in der Jazzmetropole Frankfurt am Main schießen die Nachtlokale aus dem Boden, die Stadt entwickelt sich bald zum Zentrum des deutschen Cool Jazz. Nur konsequent also, dass Koller und sein Quartett Ende 1952 an den Main ziehen, bald schon erweitert der Posaunist Albert Mangelsdorff den Kreis. Zu Beginn des Folgejahres gründet Jutta Hipp mit Joki Freund und Emil Mangelsdorff ihre erste Formation als Bandleaderin, das Jutta Hipp Quintett. Eitelkeit liegt ihr fern, die Idee, die neue Gruppe nach ihr zu benennen, stammt dem Vernehmen nach von Joki Freund. Die Zusammenarbeit mit Hans Koller hat Hipp da ­bereits beendet, ihr passt die starre Fixierung auf den amerikanischen Cool Jazz nicht mehr, ihr schwebt ein swingenderer Stil, ein Cool Jazz mit europäischer Färbung vor. Die Gruppe er­arbeitet sich schnell einen exzellenten Ruf und wird entsprechend gebucht, unter anderem tritt sie beim 2. Deutschen Jazz-Festival 1954 auf und nimmt eine EP für das neue MOD-Label von Gigi Campi auf. Gastspiele in Schweden und Jugoslawien folgen, Jutta Hipp tritt in ihren europäischen Jahren noch mit dem schwedischen Saxophonisten Lars Gullin und dem serbischen Trompeter Duško Goykovich auf. Dann folgt die schicksalhafte Einladung von Leo­nard Feather, der Rest ist Geschichte.
Sämtliche Aufnahmen von Jutta Hipp versammelt die kürzlich erschienene CD-Box »Hipp is cool«, darunter selbstverständlich ihre drei Platten für Blue Note, aber auch die ersten musikalischen Gehversuche mit dem Lime City Swing Club, in nicht gerade audiophiler Qualität. Interessant vor allem ist, wie unbeirrt sich Jutta Hipp durch die Jahre spielt. So lange ihr niemand künstlerisch reinredete und sie ins Rampenlicht drängte. Das Showbusiness, die große Bühne war der falsche Rahmen für ihre Kunst, sie bevorzugte die kleinen europäischen Keller, die spontan wirkenden Konzerte, eine Szene, aus der sie jederzeit wieder ausbrechen konnte. Den sechs CDs und der DVD des Box-Sets liegt außerdem ein über 200 Seiten starker zweisprachiger Bildband bei, der eine Biographie, Zeichnungen, Gedichte, Karikaturen, Anekdoten und Interviews enthält.
Die letzte Einspielung der Pianistin sollte ihr drittes Album für Blue Note bleiben, jenes mit Zoot Sims. Zwar arbeitete Hipp noch mit Charles Mingus zusammen – diese kurze Zeit bezeichnete sie später als die wahrscheinlich glücklichste ihrer Karriere. Dann ging sie mit dem Tenorsaxophonisten Jesse Powell auf Tour durch die Südstaaten, anfangs mit schwarz geschminktem Gesicht, zog sich aber in der Folgezeit immer weiter aus dem Business und von der Bühne zurück, ohne diesen Schritt wirklich zu begründen. Es habe einfach nicht mehr gepasst, sagte sie später. Hipp trat eine Beschäftigung in einer Kleiderfabrik an und widmete sich fortan verstärkt dem Zeichnen und der Malerei. 1967 gibt sie dem Kölner Stadt-Anzeiger ein Interview, danach wird es still um sie. Jutta Hipp stirbt 2003 in New York. Nach Deutschland kehrte sie nie zurück.

Hipp is cool – The Life and Art of Jutta Hipp. CD-Box
(Be! Jazz/Bear Family Records)