Die besetzte Druckerei Madygraf in Buenos Aires besucht

Andere anstiften

Selbstverwaltete Betriebe haben in Argentinien Tradition. Die Belegschaft der Druckerei Madygraf in Buenos Aires ist gut organisiert. Probleme gibt es trotzdem.

Die Druckerei Madygraf im nördlichen Industrieaußenbezirk von Buenos Aires ist seit anderthalb Jahren in der Hand der Belegschaft. Eigentlich befinden sich in dem Werksgebäude aus den Siebzigern zwei sehr verschiedene Betriebsteile, erzählt Jorge Medina, der seit der Übernahme durch die Belegschaft die Führungen für Gäste, Sympathisierende und Presse veranstaltet. Während in der Binderei, Medinas Arbeitsplatz zur Linken des Hauptgangs, Leute zu finden sind, die von ihren Vorgesetzten früher systematisch gegeneinander aufgehetzt wurden und von denen es nun heißt, dass sich viele von ihnen die Eigentümer zurückwünschten, sind zur Rechten im Druck die treibenden Kräfte der Kooperative zu finden, was auf die stärker kollektiv organisierten Arbeitsprozesse zurückgeführt wird.
Zum Zeitpunkt des ersten Übernahmeversuchs 1997 gehörten die beiden Teile zu zwei verschiedenen Firmen. Néstor Pitrola führte damals die Atlántida-Belegschaft, links vom Hauptgang, in einen Streik, der im Versuch gipfelte, den Betrieb unter Belegschaftskontrolle zu bringen. Das scheiterte, nicht zuletzt wegen der faktischen Spaltung von Betrieb und Belegschaft. Bis zur ersten dauerhaft erfolgreichen sogenannten Instandbesetzung beim Metallteilewerk IMPA in der sogenannten Innenstadt von Buenos Aires verging noch ein weiteres Jahr. Pitrola verließ den Betrieb und wandte sich der Organisation der Erwerbs­losen in der Piquetero-Bewegung dem Polo Obrero (PO) zu. Die Erwerblosen sind wahrscheinlich einer der Hauptgründe für die heutige Größe und Bedeutung der Partei.

Die damalige Spaltung soll sich nicht wiederholen, deshalb ist man heutzutage trotz der großen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Betriebsteilen um Einigkeit bemüht. Das gilt auch im politischen Rahmen – Medina gehört der anderen großen trotzkistischen Partei an, dem PTS (Partei der sozialistischen Arbeiter), der mit dem PO und der Izquierda Socialista (IS) zusammen als Linksfront FIT über eine Million Stimmen bei den Wahlen seit 2013 erringen konnte. Dennoch knirscht es zwischen den Parteien ständig. Zuletzt veranstalteten PO und PTS separate Abschlusskundgebungen bei einer Großdemonstration gegen staatliche Repression, der PO skandierte dabei gegen den PTS gerichtete Gesänge, der IS-Block ging schon vorher wieder nach Hause.
Von den heute 210 Mitgliedern der Kooperative sind etwa 20 Mitglieder des PTS, aber nur drei auf Medinas Seite des Betriebs. Der 32jährige selbst ist seit 2004 hier. Er trat wie die meisten anderen aber erst der Partei bei, als sich die Auseinandersetzung mit den Eigentümern verschärfte und der PTS, zu dessen Basis die Belegschaften mehrerer bekannter und langjähriger Instandbesetzungen wie das Keramikwerk FaSinPat Zanón in Neuquén gehören, die Kollegen tatkräftig zu unterstützen begann. (Jungle World 49/2014)
Das erste Negative, das Medina erwähnt, ist denn auch, dass die Belegschaft von Mardygraf einmal nicht zu einer Solidaritätsaktion gingen, weil sie einen Auftrag fertigzustellen hatten. Es ­betraf Worldcolor, eine andere Druckerei in der Zona Norte, ebenfalls »herrenlos« und unter ­Belegschaftskontrolle, seit der kanadische Mutterkonzern 2010 aufgekauft wurde. Obwohl sie gemeinsam Dutzende Demonstrationen auch in der Innenstadt bestritten, wirft sich Medina vor, die Solidarität der kapitalistischen Selbstausbeutung geopfert zu haben.
Vieles über Madygraf lässt sich bereits dem Eingangsbereich entnehmen. An einer Wand hängen Cover von hier im Laufe der Zeit gedruckten Zeitschriften – fast alle sind noch dabei, darunter viele beliebte Klatschmagazine. Aber auch Neues gibt es zu sehen, wie etwa das komplett hier entworfene und produzierte, vielfach kostenlos verteilte Madygraf-Schulheft.
Die Stechuhr, die vor dem Bereich mit Umkleidekabinen und Krankenstation steht, gilt als Relikt einstiger Antreiberei und wird nicht mehr benutzt. Eine Tafel mit den unfallfreien Tagen lügt noch aus den Eigentümerzeiten – jetzt muss nicht mehr gelogen werden, es wissen ohnehin alle über alles Bescheid. Obwohl es an diesem Tag zwei Verletzungen gab, ist die Zahl der Arbeitsunfälle insgesamt doch stark zurückgegangen, wie es auch aus anderen Betrieben unter Belegschaftskontrolle bekannt ist. Medina nennt als Gründe dafür, dass sich der Arbeitsrhythmus verlangsamt habe, nicht ständig Druck auf die Arbeiter ausgeübt werde und es mehr Verantwortungsgefühl für den Arbeitsprozess gebe.
Die meisten Mitglieder der Kooperative wohnen in der Umgebung, in Garin, Escobar, Tigre, nicht weiter als zehn oder 15 Kilometer entfernt. Sie kennen sich, viele haben familiäre oder Liebesbeziehungen miteinander. Während vorher ein Großteil der Belegschaft nicht in der Produktion, sondern in der Verwaltung, Sicherheit und Kontrolle arbeitete, sind heute alle in den Schichtbetrieb eingespannt, so dass mit der Hälfte der Leute die gleiche Arbeit bewältigt werden kann und so enorme Summen eingespart werden.
Im Kontrast zum allgemein freundschaftlichen Umgang scheint die Taschenkontrolle beim Verlassen des Betriebs zu stehen. Früher war den Arbeitern egal, wenn geklaut wurde; als das nach der Übernahme jedoch weiter passierte – was Medina dem kleinen Teil der Belegschaft zuschreibt, der noch eine Weile weiter arbeitete, dann aber ging –, führte die Versammlung die Kontrollen ein. Ausschlaggebend war das Argument, dass ja niemand etwas zu verbergen habe.
Früher waren keine Frauen in der Produktion, jetzt sind es etwa 40. Dass es nicht noch mehr sind, liegt nach Medinas Ansicht am immer noch zu starken Machismo. Schon seit 2011 gab es im Betrieb eine interne Frauenkommission, damals überwiegend aus Freundinnen und Ehefrauen der Kollegen zusammengesetzt, heute reicht man sich die Kinder von Schicht zu Schicht ­weiter.

Neben den Druckmaschinen hängt eine Fahne mit der Aufschrift »Pequeños de Pie« (etwa: »Kleine ganz groß«, oder: »Die Kleinen stehen auf«), mit der auch der Nachwuchs zur politischen Betätigung angeregt werden soll. Manchen Familien geht diese Agitation zu weit, weshalb noch darüber diskutiert wird. Das bekannte argentinische Kinderlied »Cuarteto de la Plusvalía« kommt in den Sinn, in dem der Sänger Belek seinen Sohn über Klassenkampf und Sozialismus aufklärt und ihn ermuntert: »Schließ dich mit deinen kleinen Genossen zusammen.«
Die ständigen Versammlungen, die nach dem Vorbild anderer Instandbesetzungen schon vor der Übernahme als Leitungsinstanz vorbereitet wurden, haben das Betriebsklima stark verändert. Medina nennt als Beispiele den vorher gegenüber Bolivianern grassierenden Rassismus, aber auch Homophobie – statt sich gegenseitig als puto (Stricher) zu beschimpfen, ist heute carnero (Hammel), der Ausdruck für Streikbrecher, die gebräuchlichste Beschimpfung.

Mittlerweile geht es bei den Versammlungen größtenteils ums Geld, also um die Gewinnausschüttung an die Mitglieder der Kooperative. Wie in anderen Betrieben muss ständig abgewogen werden, wie viel ausgezahlt, wie viel investiert und wie viel gespendet wird. Medina sagt, obwohl Geld bei jeder Versammlung Thema sei, wolle dennoch niemand mehr oder schneller arbeiten – den von früher gewohnten Leistungsdruck und die ständigen Überstunden will niemand zurück.
Man verdient hier mit 10 000 Pesos pro Monat erheblich mehr als in den meisten anderen instandbesetzten Betrieben, aber dennoch weniger als früher, als auch die Inflationsrate noch vergleichsweise niedrig war. Die bisherigen staatlichen Pro-Kopf-Subventionen wurden gegen zweckgebundene Gelder aus einem anderen Regierungsprogramm für Investition und Kapitalisierung eingetauscht.
Das frühere Produktionsvolumen wird bislang nicht erreicht. Wichtige Zulieferer wie St. Chemical seien abgesprungen, deren Material müsse nun teurer über Zwischenhändler gekauft werden. Die früheren Eigentümer vom US-amerikanischen Konzern RR Donnelley hätten die Belegschaft überall denunziert, weshalb sie nun zu niedrigeren Preisen liefern müssen. Die Maschinen und das Gebäude gehören noch dem Insolvenzverwalter, der 15 Prozent von allen Erlösen kassiert. Und das wird vorläufig auch so bleiben: Während das Provinzparlament dem von Cristian Castillo (PTS) eingereichten Enteignungsgesetz zugestimmt hatte, hat sich der Senat so lange damit Zeit gelassen, bis die Bewilligungsfrist verstrichen war, so dass nun der ganze Prozess von vorn begonnen werden muss.
Gegen Donnelley sollte zwar wegen Finanzbetrugs (»Störung der wirtschaftlichen Ordnung«) mit Hilfe eines Antiterrorparagraphen ermittelt werden. Die von der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner angekündigten Ermittlungen wurden aber offenbar nie aufgenommen. Auch der neue Präsident Mauricio Macri, der sich von Venezuela abwenden und den USA, Chile, Kolumbien und Peru zuwenden will, will das nicht weiter verfolgen. Dennoch besteht aber wohl kein großes Risiko, dass die Eigentümer zurückkommen.
Höchstwahrscheinlich wird Macri den Instandbesetzungen irgendwann auf den Pelz rücken – bereits als Bürgermeister von Buenos Aires hat er die Kooperativen im Stadtgebiet stets bekämpft. Das liegt ganz auf seiner politischen Linie von Massenentlassungen, verschärfter Repression, Sozialkürzungen und Beseitigung von Handelshindernissen. Für Madygraf wirkt sich das konkret so aus, dass Tinte und Papier, die vorher wegen der Handelsbeschränkungen schwer zu besorgen waren, nun leichter verfügbar, aber immer weniger erschwinglich sind. »Vielleicht sollten wir einfach Geld drucken wie Amado Boudou«, scherzt Medina in Anspielung auf den bisherigen Vizepräsidenten und dessen Verstrickung in eine dubiose private Notenbank, ein Skandal, der in Argentienien als »Boudougate« bekannt ist.
So oder so sei davon auszugehen, dass sich die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtern wird. Madygraf sieht sich einer geschlossenen Front aus bisheriger und neuer Regierung gegenüber. Die Zona Norte liegt nicht im Hauptstadtdistrikt selbst, sondern in der angrenzenden Provinz Buenos Aires. Hier regiert Maria Vidal aus Macris Partei, der konservativen Propuesta Republicana (PRO). Die Kirchneristas von der Peronistischen Partei, die sich landesweit weiterhin als kleineres Übel zu präsentieren versuchen, haben für Vidals Austeritätshaushalt gestimmt, mutmaßlich vor allem um ihre Posten zu behalten. Einer ihrer Anhänger sagte im Streit mit einer Trotzkistin: »Politik ist immer schmutzig, Demokratie ist ohne Kapitalismus und Klassen nicht zu haben.«
Medina sieht Madygraf derzeit als recht isolierten Einzelfall. Es gibt kaum Neubesetzungen und die anderen Grafikkooperativen, in denen überwiegend Kirchneristas den Ton angeben, stehen Mardygraf nicht besonders nahe. Andererseits beschwört die gegenwärtige Lage in Argentinien Erinnerungen an die späten Neunziger herauf, als Tausende Betriebsschließungen, rasant zunehmende Arbeitslosigkeit und Armut bis zum Hungertod zu landesweiten Protesten und den ersten recuperaciones genannten Instandbesetzungen führten.
Damals lieferten einige wenige besetzte Betriebe das Vorbild für eine wachsende Zahl anderer – heute gibt es mehr als 300 von ihnen in Argentinien. Madygraf selbst wurde übernommen, kurz nachdem eine PTS-nahe Filmgruppe in der Internet-Kurzfilmreihe »Marx ha vuelto« die recuperación einer Druckerei vorgeführt und mit Auszügen aus dem Kommunistischen Manifest unterlegt hatte.
Im Orga-Raum hängt über den Demonstrationsutensilien, den Trommeln, den Fahnen und dem Megaphon auch eine Wandzeitung zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Wie auch sonst in sozialistischen Debatten hier spielt neben der Russischen Revolution Deutschland eine Hauptrolle. Deutschland ist in Argentinien allgegenwärtig: Deutsche Marken prägen das Stadtbild, deutsche Autos, Medikamente, Nahrungsmittel, Süßigkeiten, Maschinen, Töpfe, Motoren überall. Viele Argentinier kennen sämtliche Bundesliga-Vereine. Deutsche Filme und Schauspieler scheinen hierzulande bekannter zu sein als in Deutschland. Historisches Vorbild war Deutschland sowieso, und nicht für Gutes: von Peróns Antikommunismus über die faschistische Militärdiktatur bis zum autoritär-elitären Teil der Mittelklasse heutzutage. Angela Merkels temporärer Grenzöffnung kann Argentinien zwar nicht nacheifern, die Grenzen sind sperrangelweit offen. Unter Macri könnte nun allerdings dem europäischen Beispiel gefolgt werden, die Grenzen doch mehr zu kontrollieren – freier Verkehr nur für Waren und nützliche Arbeitskräfte. Insofern bilden deutsche Vorbilder wie Marx, Engels und die Revolution von 1918 bis 1923 eine angenehme ­Abwechslung.
Raúl Espineda vom PO mutmaßt beim Festival gegen die Ausschlachtung des Medienkonzerns Grupo 23 im Parque Centenario, dass spätestens im März das Land brennen werde, sobald Ferienzeit und Sommerpause zu Ende seien und die Leute merkten, was die Maßnahmen der neuen Regierung, wie etwa die drastische Erhöhung der Strompreise, für sie bedeuteten. Vielleicht ergibt sich also schon bald eine Lage, in der der Funken wieder häufiger überspringt, wie um 2001 und 2008. Vielleicht liefert die Beharrlichkeit der argentinischen Instandbesetzungen auch weiterhin Beispiele für Arbeitende in anderen Ländern, wie bisher bereits in Betrieben in Griechenland, Bosnien, der Türkei und Frankreich.
Auch Medina sieht das als Auftrag: »Wir wissen nicht, ob es bald wieder mehr neu instandbesetzte Betriebe geben wird, aber was wir wissen, ist, dass es mehr geschlossene Betriebe geben wird. Also wollen wir weiter ein Beispiel sein und andere in ihren Kämpfen unterstützen.«

Dolmetscherin: Magui López