Der Streit über ein besetztes Gewerkschaftshaus in Göttingen

»Bei allem Gutmenschentum«

Seit einem Vierteljahr ist in Göttingen ein ehemaliges Gewerkschaftshaus von Antirassisten und Flüchtlingen besetzt. Der DGB-Landesvorsitzende kritisierte die Besetzer zunächst mit fragwürdiger Wortwahl.

Seit mittlerweile etwas mehr als drei Monaten ist das Gebäude am Rand der Göttinger Innenstadt besetzt. Eine Gruppe von Antirassisten wollte der zunehmenden Isolierung von geflüchteten Menschen in Massenunterkünften und Containerdörfern eine praktische Alternative entgegensetzen. Vom ersten Tag an nächtigten Besetzer und Geflüchtete gemeinsam in dem Haus in der Oberen-Masch-Straße 10, das auf den Namen »Our House«, kurz: »OM10« getauft wurde. Bisher konnten sie dabei auf das Wohlwollen der Nachbarschaft zählen.
Hartmut Tölle dagegen, der Landesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Niedersachsen und SPD-Mitglied, wurde im Göttinger Tageblatt Ende Januar mit den Worten zitiert, man müsse »bei allem Gutmenschentum auch mal aussprechen, dass die Neigung, Flüchtlinge in der Altstadt zu haben, nicht so ausgeprägt ist«. Die Besetzer hätten »Flausen im Kopf« und sollten an der künftigen Nutzung nicht beteiligt werden. »Diese Leute, die dort sind, haben das Haus widerrechtlich besetzt«, sagte Tölle dem Lokalblatt.

Die Besetzer antworteten mit Verwunderung und Empörung. In einem Statement verurteilten sie die Aussagen als rassistische Stimmungsmache. Zugleich bekundeten sie, ihr Projekt fortführen zu wollen. Neuerlichen Kontakt mit dem DGB werden sie dabei allerdings kaum verhindern können, denn dieser ist über eine ihm gehörende Vermögensverwaltungsgesellschaft Eigentümer des Gebäudes.
Dessen neue Nutzer können die Äußerungen Tölles nicht nachvollziehen. Man habe sich intensiv um den Kontakt mit Anwohnern bemüht und sei auf viel Interesse, Sympathie und Unterstützung gestoßen. Hochrangige Gewerkschafter seien dagegen erst ein Mal vor Ort gewesen.

Ohnehin zeigte der DGB in den vergangenen Jahren wenig Interesse an seiner ehemaligen Göttinger Zentrale, aus der er 2009 ausgezogen war. Trotz grassierender Wohnraumknappheit in der Studentenstadt ließ er das Gebäude seither leerstehen. Auch auf die gegenwärtige Besetzung reagierte er zunächst eher gleichgültig und sicherte den Besetzern nach deren Angaben zu, dass eine baldige Räumung nicht zu befürchten sei. Umso überraschender, dass der DGB nun offenbar eine Umnutzung des besetzten Hauses plant und einen entsprechenden Bauantrag vorbereitet. Man wolle dort Wohnungen für Auszubildende und Studierende einrichten, erklärte Tölle. Zugleich war er sich nicht zu schade, darauf hinzuweisen, dass Geflüchtete ja nach wie vor dort wohnen könnten – sie müssten sich eben nur an einer Hochschule immatrikulieren. Ein wenig zynisch mutet es da an, dass der niedersächsische DGB mit dem Slogan »Refugees Welcome« für eine solidarische Politik gegenüber Geflüchteten wirbt.
In der »OM10« stößt das Vorhaben des Haus­eigentümers freilich auf Unverständnis. »Eine Debatte um das Gebäude haben wir doch überhaupt erst richtig ins Rollen gebracht«, sagt einer der Besetzer im Gespräch mit der Jungle World und betont, dass man nicht bereit sei, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen: »Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir selbstbestimmten Wohnraum für geflüchtete und andere Menschen, beispielsweise Erwerbslose, schaffen möchten.« Trotzdem sei man prinzipiell verhandlungsbereit und habe mehrfach den Kontakt zum DGB gesucht. Seit Anfang Dezember habe dieser aber nicht mehr von sich hören lassen. Von den aktuellen Planungen erfuhren die Besetzer aus der Zeitung. Nicht zuletzt deshalb scheint sich zumindest der niedersächsische DGB-Vorsitzende als Verhandlungspartner diskreditiert zu haben.
Die »OM10« hat sich unterdessen als soziales Zentrum gut entwickelt. Selbstorganisiert wurde das Gebäude renoviert und bewohnbar gemacht. Jede Nacht nutzen über ein Dutzend Menschen das Angebot, in einem der Zimmer unterzukommen. Darüber hinaus finden Vernetzungstreffen von Geflüchtetengruppen, politische Informationsabende sowie Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen statt. Auch Sprachkurse werden in den Räumen organisiert. Abends macht sich regelmäßig eine Gruppe zum Bahnhof auf, um auf der Durchreise gestrandeten Menschen die Übernachtung im Haus anzubieten.

Doch auch in Göttingen ist das Engagement für wohnungslose Geflüchtete groß – gerade an der gewerkschaftlichen Basis. Entsprechend scharf wurden die Aussagen Tölles kritisiert. In einem Aufruf für eine »Göttinger Lösung« werden sie als »politisch skandalös« verurteilt und wird Solida­rität mit der »OM10« eingefordert. Die Verfasser stammen mehrheitlich aus DGB-Gewerkschaften wie Verdi, IG Metall und GEW. Breite Zustimmung erhielten sie von Göttinger Parteien, von Professoren und Mitarbeitern der Universität und besonders aus dem Gewerkschaftsumfeld, etwa der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Der Jungle World sagte einer der Initiatoren des Aufrufs, er hoffe, »dass der Kollege seinen Fehler einräumt und sich solidarisch mit den Aktivisten in der ›OM10‹ zeigt«. Er fordert, dass der DGB den Besetzern auch zukünftig die Nutzung des Hauses ermöglicht. Darüber hinaus sei zu überlegen, ob das Projekt nicht durch ein »gewerkschaftliches Beratungsangebot für Migranten« sinnvoll unterstützt werden könnte. Dem würden sich auch die Antirassisten und Geflüchteten in der »OM10« nicht verschließen, fordern sie doch ohnehin eine Unterstützung ihres Engagements durch die Kommune und den Eigentümer des Hauses.
Tölle sagte der Jungle World am Montag, er bedauere »seine Wortwahl«. Er habe damit »in keiner Weise Menschen diskreditieren« wollen, die Geflüchteten helfen. Die Vermögensverwaltungsgesellschaft der Gewerkschaft bemühe »sich derzeit um eine geeignete Nutzung für das Haus«. Was das konkret bedeutet, ist unklar.