Die 66. Berlinale zeigt vor allem politische Filme

Es braucht nicht immer Bilder

Dem Berlinale-Kino reicht es manchmal, wenn ein Film authentisch ist. Die 66. Auflage der Berliner Filmfestspiele ist gewohnt politik- und realitätsintensiv.

Die Stadt ist schon tap(s)eziert: Auf den Plakaten der 66. Berlinale ist ein dicker Braunbär unterwegs, mal geht er die Treppen der Neuen Nationalgalerie hinauf, mal ist er unter der Hochbahn zu sehen. Überall scheint er zu sein, nur an einem Ort nicht: im Kino.
Das entspricht in etwa dem Willen der Festivalleitung, in der Zeit vom 11. bis 20. Februar ganz Berlin in die Filmfestspiele einzuspannen. Kino soll sich um alles und jeden kümmern. David Bowie, Alan Rickman und Ettore Scola sind gestorben? Sie bekommen ihr Sonderscreening. Dieses Filmfest kann auf alles und jeden sofort reagieren. Wie gewohnt sind über 400 Filme während dieses 23 Millionen Euro teuren Spektakels, das die diesjährige Jury-Präsidentin Meryl Streep aufbietet, zu sehen, da ist Platz.
Verständigung, Toleranz und Akzeptanz zu fördern und immer auf gesellschaftliche Situationen zu reagieren »mit seinem Programm, aber auch durch viele zusätzliche Aktivitäten«, sei die Aufgabe des Festivals, heißt es im offiziellen Sprech. Und jetzt sind so viele Flüchtlinge gekommen. Also: »Als Publikumsfestival und Großereignis der Stadt sieht sich die Berlinale in der Verantwortung, ihren Teil zur Berliner Willkommenskultur beizutragen.« Karten gibt es mit Ermäßigung, im Rahmen der »Patenschaften für Kinobesuche« gehen Berliner zusammen mit Geflüchteten in die Vorstellungen.
Was werden sie zu sehen bekommen? Zum Beispiel Filme, in denen es um Flüchtlinge geht. Oberthema dieses Jahr: Recht auf Glück. »Auf Arbeit, Leben und Selbstbestimmung«, wie Festivaldirektor Dieter Kosslick ausführt. Lauter decent films, auch im Wettbewerb: In »Soy Nero« zeigt Regisseur Rafi Pitts Mexikaner, die der US-Armee beitreten, um später in den USA arbeiten zu können. Plötzlich findet sich der Held in der Wüstenlandschaft der Kriegs­gebiete im Nahen Osten wieder. Und sorgt vielleicht für noch mehr Flüchtlinge.
Gianfranco Rosi hat sich nach Lampedusa begeben und schaut in »Fuocoammare«, wie da die Jugend aufwächst, inmitten der großen Fluchtbewegungen aus Syrien und dem Irak. Sicher gibt es auch die klassischen Themen wie im Wettbewerbsfilm »24 Wochen«: Erfolgreiches Paar kriegt Kind, und nun? Szenen einer modernen Dienstleistungsehe, ach je.
Endlich Content: Die Ausleuchtung der globalen Krisen ist viel anziehender als derlei deutscher Gleichstellungsstoff. Der Regisseur, die Regisseurin, sie sind wagemutige Helden geworden, sie verfertigten ihre Gedanken allmählich beim Filmen. Man fährt mit dem Schiff von Libyen nach Italien, pilgert auf der Balkan-Route. Drückt den Betroffenen die ­Kamera in die Hand. So in »Life of the Border« in der Sektion Generation, wo Kinder im Flüchtlingslager von Kobanê ihren eigenen Spot drehen. Philip Scheffner veranstaltet ­dasselbe im Forum mit einer Romafamilie (»And-Ek Ghes...«)
So sehr diese Filme auch richtig echte Schicksale zu vermelden haben, so wenig Bilder liefern sie oft. Im Scheffner-Film sieht man Menschen eine Wohnung einräumen, Essen kochen, Essen essen, Geschirr spülen. Ganz schön viel davon. Aber solche von Alltäglichkeit bestimmten Handlungen werden für den Rezipienten schnell zum Füllmaterial, um den Film auf Abendlänge zu bringen. Brauche ich das wirklich für mein Leben, diese irre langen Einstellungen, mit Rauchen, Reden, Im-Kochtopf-Rühren? Oder liegt im Immergleichen gar die Kraft zur Veränderung? »Make Food not War« ist dieses Jahr sogar die Reihe Kulinarisches Kino überschrieben. Das lauter Beiträge präsentiert, die Probleme wie Rassismus, Armut oder Klimawandel thematisieren.
In dem Forumsbeitrag »Ta’ang« ist es Ziel, Menschen in einem burmesischen Flüchtlingslager zu zeigen, wie sie sich gerade einen Alltag konstruieren, während hinter den Bergen die Granateinschläge grummeln. Das bedeutet lange Passagen, in denen die Gefilmten auf den Boden rotzen, bei der Mahlzeit quatschen oder beides gleichzeitig machen. Die Dokumentation des Ist-Zustands reicht, um einen zweieinhalbstündigen Film ohne erkennbare Dramaturgie zu produzieren. Ist das, der Vorwurf geht ja immer wieder Richtung Berlinale, eigentlich Filmkunst? Manchmal, wenn man sich im Kino umdreht, sieht man, wie solche Werke eine Schlafquote von locker 50 Prozent im Publikum erreichen; ein paar Leute checken ihren Facebook-Account (»Sitz grad im Kino« – Gefällt mir).
Umgekehrt entstehen bei radikalem Gestaltungswillen so extreme Filme, dass man sich eher in einer Videoinstallation wähnt. In seinem zweiten Beitrag »Havarie« hat Scheffner ein dreiminütiges Youtube-Video von einer Schlauchbootüberfahrt von Migranten auf dem Mittelmeer auf einen abendfüllenden Dokumentarfilm gestreckt. Im Ergebnis entsteht eine Art Stop-Motion-Bildfolge. Zu hören ist die Kommunikation der Frontex-Mitarbeiter, der Rettungskräfte, der Monolog einer Illegalen aus Frankreich. Scheffner hat alle ausfindig gemacht, die beteiligt waren, eine irre Recher­chearbeit.
Auf jeden Fall eine cineastische Grenzerfahrung, wenn nicht Grenzüberschreitung. Oder ist das gar schon albern? Herkömmliche Kategorien der Unterhaltung – Kurzweiligkeit, Spannung, Erzählen auf mehreren Ebenen – gelten in dieser Art Berlinale-Film nichts mehr. Filme sind kein Gebrauchsgegenstand. Waren die Regisseure eigentlich jemals in einem Kinofilm, vielleicht einem mit Charlie Chaplin?
Wichtige Fragen, denen sich hoffentlich die Filmkritiker bei ihrem eigenen Filmfest widmen: der an die Semaine de la Critique von Cannes angelehnten Woche der Kritik im Hackesche-Höfe-Kino. Voriges Jahr erstmals veranstaltet, war diese Reihe ein großer Erfolg. Wenn auch mit Kritik, selbstredend, nicht gespart wurde. Die ging allerdings, so ist er, der Berufsstand, richtig ans Eingemachte: Man käme ja gar nicht mehr zur Berlinale, wenn man selbst Filme zeige.
Scheffners »Havarie« spart sich was: die Ebene – zumindest der schnelleren – bewegten Bilder. Na und? Sage keiner, dass dies nicht unter Umständen wegweisend ist. Vielleicht werden Bilder ja grundsätzlich überbewertet, und man muss Film neu denken. Die Berlinale hat ein Spezialprogramm für Blinde. 1999 stellte man zum ersten Mal bei der Berlinale einen Hörfilm vor: Wim Wenders‘ »Buena Vista Social Club« mit einer sogenannten Audiodeskription versehen, die die Handlung und die Darstellung mitttels Gestik, Mimik und Ausstattung für die Nichtsehenden beschrieb. Seit 2013 sind barrierefreie Fassungen für seh- und hörbehinderte Menschen Pflicht für alle Filme, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Filme mit Til Schweiger bleiben da zwar ob des Genuschels des deutschen Superduperstars dennoch nicht rezipierbar, aber das geht ja nicht nur den Sehbehinderten so.
Gezeigt wird zum Beispiel »Der junge Törless« von Volker Schlöndorff, »Mahlzeiten« von Edgar Reitz und »Abschied von gestern« von Alexander Kluge. In der Sektion Panorama läuft der neue Film von Doris Dörrie, »Grüße aus Fukushima«, in einer blindengerechten Version.
Den sollten sich auch alle Nichtblinden antun. Die Geschichte um eine Spaßaktivistin aus Deutschland, die aus einer traumatisierten Beziehung kommt, und die letzte Geisha im hochverstrahlten Gebiet ist dann doch mal ein ziemlich schönes Meisterwerk, bei dem einem Hören und Sehen vergeht.