Wachsende Städte und ländliche Ödnis in Ostdeutschland

Großstadt statt Kuhdorf

Es ziehen mehr Menschen nach Ostdeutschland, als von dort abwandern. ­Davon profitieren vor allem die Groß­städte. Der ländliche Osten hingegen ­verödet immer weiter.

Pegida, No-go-Areas, Bürgerwehren, die Alternative für Deutschland – der Osten Deutschlands kommt in den Medien häufig nicht gut weg. Das Ergebnis einer kürzlich vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung veröffentlichten Studie lässt da aufhorchen: Seit dem Jahr 2012 ziehen demnach mehr Personen nach Ostdeutschland, als in derselben Zeit von dort abwandern. Für die Untersuchung mit dem Titel »Im Osten auf Wanderschaft« untersuchte das Institut die Zu- und Fortzüge in 2 695 ostdeutschen Gemeinden zwischen 2008 und 2013. Vor allem die großen ostdeutschen Städte profitieren von der Entwicklung. In der Pressemitteilung des Institutes heißt es dazu: »Insbesondere die ostdeutschen ›Leuchttürme‹ Leipzig, Dresden, Jena, Erfurt und Potsdam sind zu neuen Magneten geworden, vor allem für junge Menschen, die einen Ausbildungs- oder Studienplatz suchen.«

Das war nicht immer so. Nach der Grenzöffnung 1989 zog es viele Menschen in den Westen. Wer im Osten blieb, lief nicht selten Gefahr, seine Arbeit zu verlieren. Zwischen 1990 und 2013 betrug die Nettoabwanderung aus Ostdeutschland insgesamt ungefähr 1,8 Millionen Menschen. Mittlerweile stehen die ostdeutschen Großstädte gerade bei jungen Leuten zwischen 18 und 24 Jahren hoch im Kurs.
Das liegt vor allem an der gestiegenen Attraktivität dieser Städte, die sich schon im Erscheinungsbild zeigt. Zu DDR-Zeiten ließ man die historischen Innenstädte verkommen und baute an den Stadträndern große Plattenbausiedlungen. Mittlerweile wurden viele Stadtkerne verschönert und ehemals marode Altbauten saniert. Trotzdem sind die Mieten in Städten wie Leipzig, das gern als »besseres Berlin« tituliert wird, niedriger als im Westen, selbst in den Szene­vierteln.
Das ist einer der Gründe, warum die Studentin Lena* in den Osten gezogen ist. Sie kommt ursprünglich aus der Nähe von Duisburg und zog dann für das Kunststudium nach Dresden. »Die Mieten sind schon billiger als im Westen, aber der Unterschied ist nicht so extrem«, sagt sie. Seit 2014 wohnt sie in der Stadt und fühlt sich wohl. Es sei ein wenig wie auf einem Dorf, erzählt sie. Nach einiger Zeit kenne man sich untereinander.
Dresden profitiert stark von der erhöhten Zuwanderung nach Ostdeutschland. Nach der Ausbildung oder dem Studium bleiben nicht wenige junge Erwachsene im Osten. »Weil sich in den Städten der Arbeitsmarkt verbessert hat«, wie das Berlin-Institut schreibt. Auch Lena würde nach ihrem Studium gerne bleiben. »Das Leben ist nun mal günstiger hier«, sagt sie. Außerdem böten die ostdeutschen Städte mehr Freiraum, zum Beispiel stünden noch recht viele Häuser leer.
Auch der 25jährige Roman* zog aus dem Westen in den Osten. Er studierte in Düsseldorf und ging nach seinem Bachelor in Sozialer Arbeit nach Leipzig. »Ich brauchte einen Tapetenwechsel, außerdem sind einige meine Freundinnen und Freunde auch nach Leipzig gezogen«, sagt er. Zudem sei an der Universität Leipzig die Hürde für den Master niedriger. Zurzeit ist Roman als Sozialarbeiter in der stationären Jugendhilfe in Leipzig tätig. Er hält die Mieten in Leipzig für deutlich günstiger, allerdings ist seine Bezahlung schlechter als im Westen. »Fakt ist, dass ich jetzt mit dem Bachelor deutlich weniger pro Stunde verdiene als im Westen als Student.« In politischer Hinsicht kann Roman ebenfalls Vergleiche anstellen. So sei die Linke im Osten deutlich besser organisiert und motivierter als im Westen, sagt er. Eine Tatsache stört ihn aber am Osten: »Es gibt viel mehr Probleme mit völkischem Rassismus.« Rechte hätten auch in den Großstädten eine breite soziale Basis.

Doch wie sieht es mit der Bevölkerungsentwicklung abseits der Großstädte aus? »Hauptsache weit weg von ostdeutschen Kuhdörfern«, rappt Danger Dan in dem Lied »Abwasser«. Mit der Zeile hat er nicht ganz Unrecht. Denn nur ein kleiner Teil der ostdeutschen Gemeinden, gerade einmal 15 Prozent von ihnen, profitiert wirklich vom Zuzug. Ganz anders als in den beliebten Großstädten sieht es auf dem Land aus. 85 Prozent der ostdeutschen Gemeinden schrumpfen weiterhin.
Katharina Furian ist Superintendentin im brandenburgischen Kirchenkreis Zossen-Fläming und kennt das Problem. »Es gibt einen Unterschied zwischen berlinnahen und -fernen Orten«, sagt sie. Die Bevölkerungszahlen der Regionen in größerer Entfernung zur Bundeshauptstadt, wozu knapp zwei Drittel der Gemeinden ihres Kirchenkreises zählen, sinken immer noch. Die Jüngeren ziehe es in die Großstädte, die Alten blieben zurück. In manchen Dörfern gebe es nicht einmal mehr einen Supermarkt. Stattdessen komme einmal in der Woche ein Wagen mit Brot und anderen Lebensmitteln vorbei, an einem anderen Tag ein weiterer Wagen mit Fleisch. Diejenigen, die blieben, müssten weite Wege auf sich nehmen, um aus der Provinzialität herauszukommen, so die Superintendentin.
Die Orte in der Nähe von Berlin profitieren ­dagegen von der Entwicklung. Die Kleinstadt Zossen, in der Furian wohnt, wachse langsam, aber beständig, so erzählt sie. Die Stadt liegt etwa 30 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. »Ge­rade junge Familien ziehen nach Zossen«, sagt die Superintendentin. Die Nähe zu Berlin mache die Stadt attraktiv, Neubaugebiete entstünden. Furian sieht eine Möglichkeit, der Abwanderung entgegenzuwirken. Sie nahm in jüngster Zeit selbst zwei syrische Flüchtlinge im Pfarrhaus auf. Flüchtlinge böten ein großes Potential für strukturschwache Regionen, die mit schwindenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen haben, so Furian. Ähnlich sieht es auch das Berlin-Institut. Es gibt der Studie zufolge jedoch ein Problem: »Die bisherigen Erfahrungen lassen allerdings vermuten, dass Flüchtlinge, die zumindest ein vorübergehendes Bleiberecht erhalten und dann nicht mehr dem Königsteiner Schlüssel unterliegen, aus entlegenen Gebieten in die Zentren weiter­ziehen.«

Das Problem sieht auch Furian: »Flüchtlinge sind für die schrumpfenden Orte nur dann eine Chance, wenn man sie dazu bringen kann, in den Orten zu bleiben.« Doch sie ist optimistisch. Es gebe in jedem größeren Ort Initiativen für Flüchtlinge, die sich um die Integration bemühten. Die kleinen Orte, so die Studie, könnten nur von den nach Deutschland kommenden Flüchtlingen profitieren, »wenn die Gemeinschaft in den ­Orten, vom Bürgermeister über die Vereine und die Freiwillige Feuerwehr bis zu den Anwohnern, alles daran setzen würde, den vorübergehend Zugewanderten persönliche Kontakte, ­Arbeitsplätze, eine dauerhafte Bleibe, also eine gelebte Integration zu sichern«. Der Umgang mit den Flüchtlingen entscheide damit auch über die demographische Zukunft der Gemeinden. Angesichts der Geschehnisse in etlichen Ortschaften in den zurückliegenden Monaten ist also eher von einem weiteren Bevölkerungsschwund im ländlichen Osten auszugehen.

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt.