Das deutsche Kapital und die Flüchtlinge

Was das Kapital will

Wirtschaftsvertreter sind uneins über den Umgang mit Flüchtlingen. Einige warnen vor den Kosten geschlossener Landesgrenzen, andere vertreten Positionen der rechtspopulistischen AfD.

Nach Rechtspopulisten und der CSU rufen nun auch führende CDU-Politiker nach Grenzschließungen. Politisch wären sie katastrophal und wirtschaftlich kostenträchtig. Der sächsische Ministerpräsident und Bundesratspräsident Stanislav Tillich fordert die Ausweitung von Grenzkontrollen. »Wenn Schengen-System und Dublin-Abkommen nicht funktionieren, muss man wieder zu nationalen Lösungen zurückkehren«, erklärte er. Das Schengener Abkommen regelt die offenen Grenzen zwischen den Staaten der Europäischen Union (EU). Die Dubliner Vereinbarung sieht die Verpflichtung von Asylsuchenden vor, im zuerst erreichten sicheren EU-Staat zu bleiben. Das ist gescheitert.
Ein Scheitern droht auch dem Schengener Abkommen. Es ist benannt nach dem luxemburgischen Ort, in dem der Vertrag zur Abschaffung der stationären Grenzkontrollen 1985 geschlossen wurde. Nach Jahrhunderten innereuropäischer Kriege gehörten offene Grenzen zu den zentralen Projekten der EU. Heruntergelassene Schlagbäume hätten erhebliche finanzielle Folgen. Der Think Thank »France Stratégie« der französischen Regierung ist zu dem Schluss gekommen, dass sie die europäischen Nationalökonomien innerhalb von zehn Jahren 110 Milliarden Euro kosten würden – das ist mehr als ein Drittel des Bundeshaushaltes. Wartezeiten von LKW an den Grenzen verteuern Transporte erheblich. Weil keine zeitgenaue Lieferung von Vorprodukten mehr möglich wäre, müssten Firmen wieder Materiallager einrichten.
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben spricht, von Kosten in Höhe von mehr als zehn Milliarden Euro, die durch Grenzschließungen in Deutschland entstehen könnten. Sie bedeuteten »das Ende einer effizienten Wirtschaftsstruktur, die sich über mehr als 20 Jahre im EU-Binnenmarkt entwickeln konnte«, so Wansleben. Auch das größte deutsche Kreditinstitut, die Deutsche Bank, warnt vor Grenzschließungen. »Nationale Egoismen sind keine Lösungen«, sagte ihr Vorstandsvorsitzender Jürgen Fitschen.

Doch etliche Manager sehen das anders. Sie fordern – entgegen eigener ökonomischer Interessen – mehr Grenzkontrollen. Man müsse aufpassen, dass die Veränderungen die Menschen nicht überforderten, warnte Thomas Enders, Vorstandsvorsitzender des Flugzeugherstellers Airbus, mit Blick auf die Flüchtlingszahlen. »Sicher begrüßt jedes europäische Unternehmen offene Grenzen. Aber wir werden um gewisse Grenzkontrollen nicht herumkommen«, sagte Enders. Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG, ist ähnlicher Auffassung: »Auch ich bin für mehr Kontrolle in dieser Situation.« Ebenfalls für Grenzschließungen ist Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW). Natürlich kosteten die Kontrollen den Mittelstand Zeit und Geld, räumte er ein. »Aber«, so Ohoven, »das ist derzeit das kleinere Übel!« Denn die Kosten für Flüchtlinge seien weitaus höher. Damit liegt Ohoven ganz auf der Linie der AfD, die ohnehin für Grenzschließungen ist. Die seien »in der entstandenen Lage unvermeidbar, denn die enormen Kosten der Inkaufnahme einer weiterhin ungebremsten und ungesteuerten Zuwanderung von Migranten überstiegen die Kosten der Grenzkontrollen bei weitem«, so der stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen.

Doch solche Gegenrechnungen sind falsch. Die Kosten für Grenzschließungen würden die europäischen Nationalökonomien und über steigende Preise die Verbraucher belasten, vor allem die mit niedrigem Einkommen. Die bisherigen und kommenden staatlichen Ausgaben für Flüchtlinge in Deutschland, die nach Schätzungen von Wirtschaftswissenschaftlern bei mehr als 20 Milliarden Euro liegen werden, wirken dagegen wie ein Konjunkturprogramm. Dieses Geld wirkt fast eins zu eins als Nachfrage. Ob soziale Dienstleister, Busunternehmen, Vermieter, der Einzelhandel in der Nähe von Sammelunterkünften oder Verpflegungsfirmen – an Schutzsuchenden verdienen viele Unternehmen gut. Und das ist keineswegs verwerflich, im Gegenteil. Der in den vergangenen Jahren fast zum Erliegen gekommene soziale Wohnungsbau wird wiederbelebt, Bund und Länder nehmen Milliarden für den Wohnungsbau in die Hand.
Nicht nur von vollen Auftragsbüchern profitieren Unternehmen. Seit langem klagen Handwerk und mittelständische Industrie über Fachkräftemangel. Der ist selbstverschuldet, denn wer nicht ausbildet, darf sich über fehlende Bewerber nicht wundern. Die einst unter anderem von Gewerkschaften geforderte Ausbildungsabgabe für Unternehmen, die nicht ausbilden, wurde von der SPD schon lange aufgegeben. Einer Umfrage der Wirtschaftsberatung Ernst & Young zufolge können aufgrund fehlender Fachkräfte 62 Prozent der mittelständischen Betriebe freie Stellen nicht besetzen, 49 Prozent müssen aus diesem Grund Aufträge ablehnen.
»Im Mittelstand sind das Potential und die Bereitschaft enorm, Flüchtlinge einzustellen«, glaubt Peter Englisch, der die Befragung der rund 3 000 Unternehmen mit 30 bis 2 000 Mitarbeitern geleitet hat. Die Unternehmen sehen danach den Fachkräftemangel als größtes Risiko für ihre Entwicklung an. 85 Prozent der Befragten behaupten, sie seien bereit, Geflüchtete einzustellen – wobei offenbleibt, aus welchen Gründen immerhin 15 Prozent dazu nicht bereit sind. 55 Prozent der befragten Unternehmer rechnen damit, dass durch Flüchtlinge der Fachkräftemangel gelindert werden kann.
Dennoch gibt es Wirtschaftsrepräsentanten, die etwas anderes glauben machen wollen und damit die Stimmung gegen Geflüchtete weiter anheizen. »Mittlerweile dämmert es allen, dass der Facharbeitermangel kurz- und mittelfristig nicht durch die Flüchtlinge ausgeglichen werden kann«, sagte Airbus-Chef Enders. Etwa 80 Prozent hätten keinen Berufs- oder Studienabschluss, behauptete das ehemalige CSU-Mitglied – obwohl es keine gesicherten Fakten über die Qualifikation von Flüchtlingen gibt. Der Mittelstandslobbyist Ohoven glaubt, dass nur zehn Prozent in den Arbeitsmarkt integrierbar seien.

Solche aus der Luft gegriffenen Mutmaßungen dienen, anders als der Ruf nach Grenzschließungen, auch den eigenen ökonomischen Interessen. Wirtschaftslobbyisten rufen immer wieder danach, den Mindestlohn für Geflüchtete auszusetzen – angeblich, damit sie besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Auch beim Widerstand gegen die Pläne von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), den Missbrauch von Werkverträgen und Zeitarbeit erheblich einzuschränken, dient der Hinweis auf Flüchtlinge als Abwehrargument. »Die hauptsächlich vom Mittelstand zu bewältigende Aufgabe, für Hunderttausende Flüchtlinge Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen, wird so zusätzlich erschwert«, sagte Ohoven. »Die Bundesregierung sollte sich auf Maßnahmen konzentrieren, die Flüchtlingen den Einstieg in Arbeit erleichtern, statt weiter den Wunschzettel der Gewerkschaften abzuarbeiten.«
Einer Forderung von Unternehmensseite ist die Bundesregierung bereits nachgekommen. Im Oktober hat die Bundesregierung die Vorschriften für den Zeitarbeitsmarkt gelockert. Bis dahin durften Flüchtlinge vier Jahre keine Zeitarbeit aufnehmen, jetzt gilt die Sperre für 15 Monate. Das ist den Arbeitgebern noch immer zu viel. Die größte Barriere für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist für Geflüchtete freilich das Aufenthaltsrecht. Denn ob sie arbeiten dürfen, hängt von ihrem Aufenthaltsstatus ab. Vom Staat anerkannte Flüchtlinge dürfen erwerbstätig sein, aber auch ihre Aufenthaltsgenehmigung ist zunächst einmal begrenzt – was für Unternehmen bei der Einstellung ein Unsicherheitsfaktor ist. Während des Asylverfahrens ist Arbeiten nur mit Genehmigung der Ausländerbehörde und der Arbeitsagentur erlaubt, und in den ersten Monaten nach der Einreise gar nicht. Die Bundesregierung könnte das Aufenthaltsrecht liberalisieren, um Flüchtlingen und den nach Arbeitskräften suchenden Unternehmen das Leben leichter zu machen. »Die Menschen wollen lernen, und sie wollen arbeiten«, wusste Arbeitsministerin Nahles noch im vergangenen September. Jetzt sagt sie: »Alle Menschen, die in Deutschland leben, egal welcher ethnischen Herkunft, müssen sich anstrengen, Arbeit suchen und für sich und ihre Familie aufkommen, so gut sie eben können.« Nahles droht jenen mit Leistungskürzungen, die sich »nicht integrieren wollen«. Die Frau gilt als SPD-Linke. Dass rechtspopulistische Argumentationsmuster so weit vorgedrungen sind, muss mindestens so viel Sorge bereiten wie mögliche Grenzschließungen.