Werena Rosenke im Gespräch über Wohnungslosigkeit in Deutschland

»Wir sprechen nicht von einer utopischen Forderung«

In Deutschland hat die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Jungle World sprach über die Lage von Wohnungslosen und nötige Gegenmaßnahmen mit Werena Rosenke. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) und Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. Die BAGW ist ein Zusammenschluss der größten deutschen Wohlfahrtsverbände und der Bundesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen.

Es gab in den vergangenen Jahren einen deutlichen Anstieg der Zahl von Wohnungslosen. Auch die Zahl von wohnungslosen Frauen und Kindern wird größer; Geflüchtete und Migranten haben wegen fehlender Mittel und Kontakte große Probleme, eine passende Wohnung zu finden. Welche Daten liegen Ihnen vor?
Wir gehen von derzeit 353 000 wohnungslosen Menschen bundesweit aus, ein deutlicher Anstieg um knapp 20 Prozent seit 2012. Bis 2018 werden es über eine halbe Million sein, wenn sich an den Bedingungen nichts zum Positiven ändert, sprich, wenn nicht bald mehr bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht.
Die Schätzung beruht auf Daten zu Wohnungsmarkt und Fluktuation. Je geringer diese ist, desto enger der Markt. Dann gibt es noch Faktoren wie die Entwicklung im Sozialwohnungsbau, Neubautätigkeit, Sozialhilfeentwicklung, Arbeitslosenzahl und die Zahl der Geringverdiener. Dazu kommen Stichproben einer Anzahl von Städten, bei denen wir die Zahl der Räumungsklagen abfragen. Und wir werten die Zahlen aus den Notunterkünften aus. Daraus erstellt die BAGW eine Schätzung. In Deutschland fehlen Wohnungsnotfallberichte und Statistiken leider völlig, nur im Bundesland Nordrhein-Westfalen gibt es eine Wohnungsnotfallberichterstattung. Ein paar andere Kommunen fangen gerade damit an. In vielen europäischen Ländern hingegen gibt es wesentlich bessere Zahlen und Erkenntnisse. Die BAGW betreibt zudem eine qualitative Dokumentation zur Wohnungslosigkeit in Deutschland: Wir haben seit Anfang der neunziger Jahre über 30 000 aggregierte Fälle ausgewertet, also anonymisierte Daten von Studienteilnehmern aus Wohnungslosenunterkünften. Daraus erkennen wir bestimmte Tendenzen.
Wie erleben Sie Frauen in der Obdachlosigkeit und welche speziellen Hilfsangebote gibt es?
Über die Jahre ist der Frauenanteil stark gestiegen. In den Neunzigern waren es anteilig nur um die sechs Prozent Frauen. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass damals Frauen nicht einmal als eigene Bedarfsgruppe wahrgenommen wurden, es wesentlich weniger Angebote für sie gab und deutlich mehr in der versteckten Wohnungslosigkeit waren. Der Frauenanteil ist in den vergangenen Jahren von etwa 25 Prozent auf jetzt 28 Prozent gestiegen. In Großstädten haben wir häufig einen deutlich höheren Frauenanteil, verglichen mit dem ländlichen Raum. Die Zahlen hängen stark von der Angebotsstruktur ab. Aber immer dann, wenn ein spezielles Angebot existierte, haben sich die Frauen gemeldet und Hilfe angenommen. Deutschlandweit gibt es 190 Beratungsangebote und Gruppen ausschließlich für Frauen.
Viele Frauen, die obdachlos oder wohnungslos sind, versuchen möglichst gepflegt und unauffällig zu sein, um sich tagsüber vor Übergriffen zu schützen. Doch auch ein Platz in der Notunterkunft bedeutet nicht gleich Sicherheit. Wie ist die Situation von Frauen dort?
Bedauerlicherweise haben wir auch da wenig Fakten. Das liegt zum einen daran, dass in Deutschland kaum dazu geforscht wird. Bei Fachtagungen hören wir aus der Praxis der Sozialarbeiter, dass Mindeststandards, die wir als Verband für die Unterbringung von Frauen entwickelt haben, bei weitem nicht erreicht werden. In kommunalen Notunterkünften gibt es meist keine separaten Räumlichkeiten, WC-Anlagen sind nicht getrennt nach Geschlechtern und sanitäre Anlagen können nicht abgeschlossen werden. Solche banalen, aber in so einer Situation wichtigen Standards werden nicht eingehalten. Wir hatten vor Jahren eine kleine Studie gemacht und festgestellt: je kleiner die Gemeinde, desto schwieriger die Notversorgung wohnungsloser Frauen. Innerhalb der ordnungsrechtlichen kommunalen Unterbringung gibt es entweder gar nichts oder inakzeptable Einrichtungen. In größeren Städten sieht es schon besser aus, es gibt Beratungsstellen und ambulante sowie stationäre Einrichtungen. Zudem werden die Zustände mehr skandalisiert, damit geht oft eine Verbesserung einher. Verallgemeinern kann man nicht, doch gerade wenn wir über wohnungslose Frauen sprechen, gibt es kaum einen Ort, wo alles zum Besten steht.
Unterliegen Notunterkünfte Marktmechanismen und Privatisierung, vergleichbar mit dem Geschäft mit Unterkünften für Geflüchtete?
Es ist Auftrag und Pflicht jeder einzelnen Kommune in Deutschland, wie es in den Ordnungsgesetzen heißt, sogenannte unfreiwillig obdachlose Menschen unterzubringen. Das passiert in eigenen Unterkünften oder speziellen Wohnungen, über die besonders ostdeutsche Kommunen häufig verfügen. Dort ist auch das Netz an freien gemeinnützigen Trägern wesentlich dünner, also werden gelegentlich gewerbliche Anbieter beauftragt. Auch wenn es leider keine genauen Daten oder Erhebungen zum Thema gibt, gehen wir nicht davon aus, dass die Zahl zunimmt. Daher kann diese Form der Notunterbringung überhaupt nicht gleichgesetzt werden mit der Notunterbringung von Flüchtlingen, wo das in der Regel ausschließlich von gewerblichen Firmen gemacht wird. Nur die Kältenothilfe von Anfang November bis Ende März greift in der Tat mehr auf Hotels oder Pensionen zurück. Aber selbst wenn die Kommune einen privaten Anbieter oder einen gemeinnützigen Träger beauftragt, heißt das nicht, dass sie nicht politisch dafür verantwortlich bleibt.
Wie kann drohende Wohnungslosigkeit verhindert werden?
Es gibt direkt die Möglichkeit der Prävention innerhalb des ALG II im zweiten Sozialgesetzbuch und der Sozialhilfe im SGB XII. Die Kommune kann Mietschulden über ein Darlehen abwenden, wenn dadurch eine Wohnung erhalten werden kann. Das sollte von den Kommunen viel häufiger genutzt werden, insbesondere in Zeiten, in denen jemand, der seine Wohnung verliert, keine neue, bezahlbare Bleibe finden wird. Um präventiv zu arbeiten, muss eine Kommune entsprechend aufgestellt sein. Wichtig ist, dass es schnell geht, und daran hapert es. Es gibt Kommunen, die machen das gut und erfolgreich, die meisten haben solche Einrichtungen aber gar nicht oder nur sehr rudimentär. Allerdings geht es nur um Fälle, bei denen es um eine Räumungsklage wegen Mietschulden geht. Bei anderen Gründen für Wohnungsverlust greift der Mechanismus nicht.
Allerdings beobachten wir in unseren qualitativen Erhebungen, dass viele Menschen einfach aufgeben. Sie lassen es nicht auf eine Klage ankommen, sondern nehmen die Kündigung hin und gehen. Wir erhalten häufig Anrufe von Menschen, die erstens nicht wissen, dass sie Rechte haben, zweitens, an wen sie sich wenden könnten, und drittens oft erlebt haben, dass sie abgewiesen werden. Uns geht es um Anlauf- und Beratungsstellen und vor allem generell um bezahlbaren Wohnraum. Wenn es den nicht gibt, haben all die Menschen, die bereits eine Räumungsklage hatten, Menschen mit Schulden und Einträgen bei der Schufa, keine Chance mehr, überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Solange der Markt an bezahlbaren Kleinwohnungen so umkämpft ist und die Bewerber in so starker Konkurrenz sind, haben die mit Handicaps das Nachsehen.
Wie genau sollte eine solche Anlaufstelle in der Kommune aussehen?
Vorbildlich sind da die sogenannten Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit, wo an einer Stelle innerhalb der Kommunalverwaltung die Kompetenzen zur Prävention gebündelt sind. Dann müssen die Amtsgerichte bei einer Räumungsklage nicht erst sehen, ob sie die Unterlagen zum Jobcenter oder zum Sozialamt schicken. Wir sind der Meinung, dass die Jobcenter nicht die Kompetenz haben, Wohnungsverluste wirksam zu verhindern. Eine professionelle Fachstelle zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit könnte innerhalb des Sozialamts oder beim Wohnungsamt angesiedelt sein und von freien Trägern der Wohnungslosenhilfe unterstützt werden. Betroffene Haushalte sollten von den Mitarbeitern der Träger aufgesucht und neutral beraten werden, also nicht als eine weitere Obrigkeit daherkommen. Offizielle Briefe werden in solchen Situationen oft gar nicht mehr geöffnet, weil da schon Dutzende Briefe von Banken und Vermietern liegen. In erster Linie muss zwischen Mietern und Vermietern verhandelt und ein Kompromiss mit Konditionen für ausstehende Mietschulden gefunden werden. Oft reicht den Vermietern, wenn das Amt die Unterkunft bei Beziehern von ALG II direkt bezahlt. Viele Kleinvermieter haben unter dem Strich auch kein großes Interesse an teuren Räumungsverfahren.
Wenn die Kompetenz also an einer Stelle in der Kommune gebündelt wird, können Probleme oft gelöst werden. Die Erfahrungen dazu sind sehr gut. Berlin und seine Bezirke verfolgen gar kein präventives System zur Wohnungslosigkeit. Köln ist da wesentlich weiter, auch mittelgroße Städte wie Bielefeld und Kiel oder Kommunen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. In NRW gibt es seit vielen Jahren ein Landesprogramm gegen Wohnungslosigkeit und der Ausbau der Präventionsstellen wurde unterstützt. Prävention von Wohnungslosigkeit sollte aber flächendeckend bestehen. Wir sprechen hier nicht von einer utopischen Forderung, sondern von Dingen, die im Sozialgesetzbuch verankert sind. Daher ist es umso unverständlicher, wenn solche präventiven Maßnahmen gar nicht oder nur rudimentär umgesetzt werden.