Die Einführung des Mindestlohns hat für viele Beschäftigte wenig geändert

Kein Grund zum Jubeln: arm trotz Mindestlohn

Ein Jahr nach Einführung einer gesetzlichen Einkommensuntergrenze bejubeln Sozialdemokraten und Gewerkschaften ihr Projekt, während Konservative und Unternehmensvertreter es weiter verteufeln. Für Niedriglohnbeschäftigte hat sich indes wenig verändert.

Einst hatten Sozialdemokraten und Gewerkschaften in trauter Einigkeit große Zweifel am Mindestlohn. Nach einem Jahr Erfahrung mit der Lohnuntergrenze ziehen sie eine euphorische Bilanz. Die hat freilich mit der Wirklichkeit wenig zu tun. »Der gesetzliche Mindestlohn hat sein erstes Praxis-Jahr bestanden – und zwar mit Bravour«, sagt die Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Michaela Rosenberger. Der Mindestlohn sei weder »Konjunktur-Bremser« noch »gefährlicher Job-Killer«. Von einem »Meilenstein« spricht DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, von einer »Erfolgsgeschichte« die Gewerkschaft Verdi. »Mit dem Mindestlohn haben wir eine der größten Sozialreformen der letzten Jahrzehnte geschafft«, lobt sich Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Vor allem Ungelernte würden profitieren. »Es gibt mehr Lohn, mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, mehr Gerechtigkeit«, sagt sie.
Der Mindestlohn war das zentrale Projekt der SPD in der Bundesregierung. Das Copyright für das Projekt kann jedoch die Linkspartei für sich beanspruchen, die bereits viele Jahre vor den Sozialdemokraten die Einführung gefordert hat. Die SPD scheute den Widerstand der Wirtschaftsvertreter. Auch die Gewerkschaften sperrten sich lange gegen den Mindestlohn, weil sie eine Lohnangleichung nach unten fürchteten. Beides ist Geschichte. Das gilt nicht für das Gezeter der Unternehmensverbände und ihnen nahestehender Ökonomen gegen die Einführung. Fast eine Million Arbeitsplätze gingen nach Einführung des Mindestlohns verloren, prophezeite etwa Hans-Werner Sinn, der demnächst scheidende Präsident des Ifo-Instituts. Der Sachverständigenrat warnte ebenso wie das wirtschaftsnahe Institut der Deutschen Wirtschaft, die zahlreichen neoliberalen Think Tanks und PR-Leute der Arbeitgeberverbände vor großen wirtschaftlichen Schäden.
Doch davon kann keine Rede sein. Den deutschen Unternehmen geht es prima. Seit der Mindestlohn am 1. Januar 2015 für die meisten Branchen eingeführt wurde, ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze gestiegen. Bis Ende September sind im Vergleich zum Vorjahr nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit rund 688 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden. »Die Warnungen, der Mindestlohn gefährde massenhaft Arbeitsplätze, waren offensichtlich falsch«, sagt Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Zum Jubeln besteht trotzdem nur eingeschränkt Anlass. Die wenigsten neuen Jobs sind Vollzeitstellen, sondern weiterhin prekäre Arbeitsverhältnisse in Form von Teilzeit. Die meisten sind im Gastgewerbe entstanden. Dort gab es im September 61 800 oder 6,5 Prozent mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte als im Vorjahresmonat. Durch den Mindestlohn verdienen jetzt viele mehr als 450 Euro im Monat – und müssen damit sozialversicherungspflichtig angestellt werden. Bei einem sogenannten Mini-Job mit geringerem Verdienst ist das nicht der Fall. Nach Berechnungen des WSI sind allein in den traditionell auf Minijobs setzenden Branchen Gastronomie, Handel und den sonstigen Dienstleistungen rund 215 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden. Allerdings: Viele Beschäftigte in diesen Lohnklassen verlieren deshalb andere Ansprüche, haben also nicht unbedingt mehr Geld zur Verfügung. Im ersten Halbjahr 2015 ist die Zahl der Aufstocker, also der auf Hartz IV-Leistungen angewiesenen Beschäftigten, schätzungsweise um 50 000 Menschen gesunken. Ein Mittel gegen Armut von Erwerbstätigen ist der Mindestlohn allerdings keineswegs. Noch immer liegt die Zahl der arbeitenden Hartz-IV-Aufstocker bei mehr als 1,1 Millionen.
»Der Mindestlohn wirkt – damit ein Job zum Leben reicht« wirbt die SPD. Doch auch mit dem gesetzlichen Mindestlohn kommen Beschäftigte gerade knapp über die Armutsgrenze. Falls sie denn überhaupt eine Vollzeitstelle haben und brutto um die 1 360 Euro verdienen. Die mit Deutschland vergleichbaren westeuropäischen Staaten haben einen Mindestlohn von mehr als neun Euro, an der Spitze liegt Luxemburg mit mehr als elf Euro. Im konservativ regierten Großbritannien wurde der Mindestlohn schrittweise angehoben und wird in diesem Jahr auf etwa zehn Euro steigen. Damit befindet sich die Cameron-Regierung auf einer politischen Linie mit deutschen Gewerkschaften wie Verdi und der Linkspartei. Deren Fantasie reicht offenbar nicht aus, um mehr als zehn Euro Mindestlohn zu fordern – wohlwissend, dass auch diese Höhe nicht ausreichend ist. Um Rentenansprüche auf dem Niveau der Grundsicherung zu erwerben, also der Alterssozialhilfe, ist nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums ein Mindestlohn von 11,50 Euro bei einer Vollzeitstelle erforderlich.
Für die Höhe des Mindestlohns ist eine eigene Kommission zuständig, die aus Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie Wissenschaftlern besteht. Im Juni entscheidet die Mindestlohnkommission über eine mögliche Erhöhung ab 2017. Bereits jetzt trommeln CDU und CSU gegen eine Erhöhung. »Damit belasten wir nicht nur die Wirtschaft unnötig«, warnt etwa CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. »Wir erschweren es auch geringer Qualifizierten und Flüchtlingen, einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden«, behauptet er.
Der Mindestlohn ist nicht nur viel zu niedrig, er hat auch zu viele Ausnahmen. Das gilt etwa für Zeitungsausträger und Langzeitarbeitslose, aber auch Beschäftigte aus Branchen, in denen die Gewerkschaften Tarifverträge mit Mindestlöhnen unter 8,50 Euro ausgehandelt haben. Dazu gehören Leiharbeiter in Ostdeutschland und Berlin, die bis Juni 2016 nur 8,20 Euro in der Stunde bekommen. Land- und Forstwirtschaftsbeschäftigte dort erhalten bis Ende 2016 sogar nur 7,90 Euro, Textilbeschäftigte 8,25 Euro. Die zuständigen Gewerkschaften haben der Unterschreitung zugestimmt.
Auch für Berufsanfänger gibt es wenig zu feiern. Wer ein Pflichtpraktikum im Rahmen eines Studiums absolviert, bekommt ohnehin keinen Mindestlohn. Das gilt auch für Praktika, die weniger als drei Monate dauern. Erst wenn sie länger dauern, müssen Unternehmen den Mindestlohn zahlen. Die Folge: Firmen nehmen vor allem Pflichtpraktikanten und verkürzen die Dauer, um diese Regelung zu umgehen. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Clevis Consult ist der Lohn für Praktikanten zwar von im Schnitt 771 Euro im Monat auf 950 Euro gestiegen, aber die durchschnittliche Beschäftigungsdauer gesunken. Unternehmen vergeben Praktika, weil das für sie ein wichtiges Mittel der Arbeitskräfterekrutierung ist und Praktikanten meist Arbeiten erledigen, die ansonsten regulär bezahlte Beschäftigte verrichten müssten.
Konservative und neoliberale Ökonomen werden auch künftig keine Gelegenheit auslassen, Ausnahmen für bestimmte Gruppen zu fordern. Die CDU hat den Kampf darum gerade eröffnet und fordert, dass für Flüchtlinge wie für Langzeitarbeitslose ein halbes Jahr der Mindestlohn nicht gelten soll.