Einige bemerkenswerte Filme auf der Berlinale

Das Leben ist kein Testlauf

Auf der 66. Berlinale wird auch Qualität geboten. Bemerkenswert sind vor allem der tunesische Wettbewerbsbeitrag, ein kleiner, feiner Film übers Älterwerden sowie eine provokative Einreichung aus Rumänien über Inzest.

Fünf Jahre nach Beginn des »arabischen Frühlings« wacht auch die tunesische Filmproduktion auf. Bereits im vergangenen Herbst lief auf der Biennale in Venedig »À peine j’ouvre les yeux« von Leyla Bouzid. Darin rebelliert die Abiturientin Farah gegen Unterdrückung und traditionelle Rollenbilder. Das Publikum war begeistert und rief nach weiteren jungen Stimmen aus arabischen Ländern. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten: Der tunesische Film »Hedi« eröffnete den Wettbewerb der 66. Berlinale. Der Regisseur Mohamed Ben Attia sagt, er wolle mit »Hedi« ein Porträt seines Landes zeichnen: »Wir befinden uns gerade in einem Zustand des Hangover. Geknebelt sind wir nicht mehr, dafür stecken wir mitten in einer schweren sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Krise.«
Diesen Zustand bilden der Protagonist Hedi und sein Umfeld ab. Hedi, ein gelangweilter, 25jähriger Peugeot-Verkäufer mit Halbglatze, steckt fest: zwischen einer übergriffigen, verwitweten Mutter, die für ihn eine Hochzeit mit einem wenig ambitionierten Nachbarschaftsmädchen arrangiert hat (»Was ich vom Leben erwarte? Wie meinst du das?!«), einem dominanten älteren Bruder und dem Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und als Comic-Zeichner zu arbeiten.
Wenige Tage vor der Hochzeit nimmt Hedi Reißaus. Er bricht einen Kundenbesuch ab und tauscht Anzug gegen Badehose. Am Strand lernt er die emanzipierte, lebensfrohe Animateurin Rim kennen. Das Erwartbare tritt ein: Hedi verliebt sich und überlegt, seine Hochzeit abzublasen und Rim für ihren nächsten Auftrag nach Frankreich zu begleiten. Die Zweifel bleiben nicht aus: »Was kommt als nächstes?«, fragt er sie. »Muss es immer für alles einen Plan geben?!«, schleudert sie ihm entgegen.
Für welchen Weg sich Hedi entscheidet, lässt der Film offen. Pathos vermeidet er. »Hedi« bedeutet »ruhig«: so gut wie keine Musik, lange, unaufgeregte Einstellungen, teils mit Handkamera gefilmte Szenen. Der Einfluss der Dardenne-Brüder ist dem Film anzumerken.
Den »arabischen Frühling« greift Attia nur an wenigen Stellen explizit auf. Einmal sagt Hedi zu Rim: »Es war plötzlich alles anders, selbst als wir in die Firma kamen. Eine seltsame Atmosphäre lag in der Luft. Als ob sich alle umeinander kümmern würden.« Gegen das Label des politisch engagierten Kunstwerks wehrt sich die Produzentin allerdings und sagt während der Pressekonferenz: »Jeder hat erwartet, dass wir einen politischen Film machen. Bei uns geht es aber um die Ära nach der Revolution. Wir brauchen Distanz. Was wir machen, ist Fiktion.«
Die Zuschauer sahen das anders, viele bemängelten an »Hedi« – anders als beispielsweise beim italienischen Wettbewerbsbeitrag »Fuocoammare«, einer Lampedusa-Dokumentation – seine schwach ausgeprägte politische Botschaft. Warum aber erwartet man von einem arabischen Film eine politische Aussage, lässt sich aber gern von einem französischen Arthouse-Film unterhalten, in dem ein Mann und eine Frau zwei Stunden lang nicht mehr machen, als Kette zu rauchen und sich über ihre Beziehung zu unterhalten?
In Mia Hansen-Løves »L’avenir«, einem der beiden französischen Wettbewerbsfilme und in Deutschland koproduziert, geschieht genau das: die Beschränkung aufs Persön­liche. Mit Politik hat dieser Film nicht viel zu tun, auch wenn er im Pariser Intellektuellen-Milieu angesiedelt ist und Unruhen von Studenten, zumindest am Rande, eine Rolle spielen. Im Zentrum steht die Philosophielehrerin Nathalie (Isabelle Huppert), deren Blütezeit nach eigener Einschätzung lange zurückliegt. »Eine Frau über 40 kannst du in die Tonne kloppen«, sagt sie. Nathalies Existenz bricht unerwartet zusammen: Ihr Mann verlässt sie wegen einer anderen, ihre Mutter stirbt, ihr Verlag nimmt ihr Buch aus dem Programm, die Kinder sind flügge. Übrig bleiben eine dicke schwarze Katze, die sie, allergisch gegen Katzenhaare, von der Mutter geerbt hat, und jede Menge Fragen. Man erwartet ein Drama, eine neue Bestimmung als Yoga-Lehrerin oder Entwicklungshelferin, eine tröstende beste Freundin, einen jungen Lover. Nichts da. Das Leben geht einfach so weiter.
Die große Stärke von »L’avenir« ist, dass sich der Film konventionellen Lösungen verweigert. »Bist du glücklich?« wird Nathalie von einem Freund gefragt (das Motto der Berlinale lautet dieses Jahr »Das Streben nach Glück«). »Ich bin intellektuell befriedigt«, entgegnet sie trocken. Wenn irgendetwas an diesem Film revolutionär ist – und es ist bedenklich, dass man im Jahr 2016 so etwas sagen muss –, dann ist es Hansen-Løves Entscheidung, eine intellektuelle, alleinstehende Frau in den Wechseljahren in den Fokus zu rücken. Huppert dazu: »Filme über intelligente Frauen sind leider nach wie vor nicht üblich. Die meisten Regisseure haben Angst, sich daran die Finger zu verbrennen.«
Dass Hansen-Løve ein derart sensibles Porträt einer älterwerdenden Frau gelungen ist, überrascht vor allem, weil sie selbst erst 35 Jahre alt ist. Mit Gleichaltrigen habe sie sich nie auf einer Wellenlänge gefühlt, sagt sie. Dieses Gefühl der Isolation verschwinde allerdings beim Schreiben (bei »L’avenir« hat sie auch das Drehbuch geschrieben). Für Aufmerksamkeit sorgte 2014 ihr Film »Eden«, der die Pariser House-Music-Szene unter die Lupe nimmt und einen alternden DJ zum Protagonisten hat. Isabelle Huppert, die früher häufig mit dem Filmemacher Claude Chabrol zusammenarbeitete, hat sich in jüngster Zeit immer mehr jungen, experimentell arbeitenden Regisseuren zugewandt. Zuletzt zu sehen war sie an der Seite Gérard Depardieus in Guillaume Nicloux’ »Valley of Love«, einer im Death Valley angesiedelten Meditation über Leben und Tod mit wenig Handlung und aufgeladener Symbolik.
Leo Tolstoi schrieb, alle glücklichen Familien glichen einander, dagegen sei jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich. Dabei macht die Bukarester Familie Anghelescu auf den ersten Blick einen glücklichen Eindruck: ein toleranter, charmanter Vater, vier einander sehr nahestehende Geschwister, eine gut integrierte Pflegetochter und gemeinsame Mittagessen, bei denen leidenschaftlich über Politik, Philosophie und Moral debattiert wird. Doch der Schein trügt. Eines Tages lässt der älteste Sohn die Bombe platzen und konfrontiert den Vater mit seiner Vergangenheit: Zur Zeit Ceaușescus habe er Patientinnen, die eine Abtreibung planten, beim Geheimdienst denunziert. Damals drohte bei Abtreibung noch eine Gefängnisstrafe. In welche Gefahr sich Frauen bei illegalen Abtreibungen begaben, zeigt Cristian Mungius Film »4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage«, der 2007 in Cannes die goldene ­Palme gewann.
»Illegitimate«, der auf der Berlinale in der Kategorie Forum läuft, widmet sich erneut diesem Thema. Nur dass Abtreibungen im heutigen Rumänien längst legal sind. Der Vater, trotz seines liberalen Anstrichs eine autoritäre, konservative Figur, lehnt diese ab. Allerdings sieht Tochter Sasha keinen anderen Ausweg mehr, denn das Kind stammt von Romeo, ihrem Zwillingsbruder. Weder der Vater noch die Geschwister wollen von der inzestuösen Beziehung gewusst haben. Dass sich Regisseur Adrian Sitaru dieses Themas annimmt, ist an sich noch keine Notiz wert. Filme darüber gibt es einige, oft sehr gelungene. Angefangen bei Bernardo Bertoluccis »Die Träumer« über Lars von Triers »Melancholia« bis hin zu Valérie Donzellis »Marguerite et Julien«, der beim letztjährigen Festival von Cannes im Wettbewerb lief. Bemerkenswert an »Illegitimate« ist vielmehr sein Ende. Das Geschwisterpaar in Sitarus Film entscheidet sich gegen die Abtreibung und für die Beziehung. Die letzte Einstellung zeigt die wiedervereinte Familie beim Weihnachtsessen: Sasha sitzt mit Babybauch am Tisch, ihr Bruder Romeo legt liebevoll den Arm um sie. Der Vater ist gutgelaunt, es wird Wein getrunken. Dann schlägt der älteste Sohn vor, ein Familienfoto zu machen, alle drängen sich dicht zusammen. Fast wendet man sich genervt ab. Nicht nur scheint das Happy End in dieser repressiven Familie unglaubwürdig; der offen gelebte Inzest und die daraus hervorgegangene Schwangerschaft mit noch unbekannten Konsequenzen verlangen dem Zuschauer einiges ab. Doch dann entfernt sich die Kamera, zu sehen sind die sich für das Foto inszenierenden Familienmitglieder aus der Ferne. Und ganz am Rand, im Abseits, die finster dreinblickende älteste Schwester, die die Szene offenkundig missbilligt, ja vielleicht die ganze Zeit Mitwisserin des Inzests war. Diese Einstellung ist ähnlich genial wie die erste Szene, die den Vater mit seinen Kindern bei einer Autofahrt zeigt. Die Kamera ist vor der Windschutzscheibe angebracht, zu sehen sind nur die Gesichter, ihre Mimik, die sich bewegenden Lippen, quer durchs Auto geworfene Blicke sowie abgewandte Schultern. Der Ton ist ausgeblendet. »Illegitimate« bewegt sich an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation. Sitaru verzichtete auf ein Drehbuch, professionelle Schauspieler sowie mehrere Einstellungen. »Im wahren ­eines zweiten Take.«
Die 66. Berlinale endet am 21. Februar.