Menschenrechtsverletzungen in Ägypten

Der Weckruf

Der Tod Giulio Regenis in Ägypten wirft ein Schlaglicht auf die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch das ägyptische Regime, die von europäischen Regierungen zuvor kaum kritisiert wurden.

Der gewaltsame Tod des 28jährigen Italieners Giulio Regeni in Kairo schockiert nicht nur Italien und westliche Ausländer in Ägypten. Der Doktorand der Cambridge University wurde am 25. Januar, dem fünften Jahrestag der ägyptischen Revolution, im Zentrum von Kairo entführt und einige Tage später tot in einem Straßengraben in einer Kairoer Vorstadt gefunden. Der Fall belastet die Beziehungen zwischen Ägypten und Italien, dem größten europäischen Handelspartner des Landes. Die ägyptischen Behörden ließen widersprüchliche Versionen der Todesursache verlautbaren. Zunächst wurde ein Autounfall genannt. Nachdem die Autopsie in Italien eindeutige Spuren von Folter feststellen konnte und als Todesursache ein gebrochenes Genick diagnostizierte, korrigierten die ägyptischen Behörden ihre Version. In den spärlichen offiziellen Stellungnahmen wurde zuletzt behauptet, Kriminelle ohne Verbindung zu einer Terrororganisation oder dem Staat steckten hinter der Gewalttat.
In Italien wird dieser Version wenig Glauben geschenkt. Die Zeitung La Stampa setzte ein Foto von Regeni auf die Titelseite mit der Schlagzeile »Ägyptische Polizei unter Verdacht«. Ägyptische Menschenrechtler stellen die Integrität des Polizeibeamten in Frage, der die Untersuchung von Regenis Tod leitet. Nach deren Recherchen soll der hochrangige Polizist Khaled Shalaby im Jahr 2003 einen Ägypter in Haft zu Tode gefoltert haben. Dafür wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt, doch die Strafe wurde kurz darauf suspendiert. Die italienischen Behörden gehen davon aus, dass Regeni vom ägyptischen Geheimdienst verhört wurde. Der Italiener, der nebenbei für die Zeitung Il Manifesto als freier Mitarbeiter schrieb, war für einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in Kairo. Im Zentrum seiner Forschung stand die Arbeit ägyptischer Gewerkschaften und deren Lage unter dem Regime von Präsident Abd al-Fattah al-Sisi.
Sollte sich bewahrheiten, dass er wegen seiner Recherchen gefoltert und ermordet wurde, wäre dies ein Novum seit der Machtübernahme des Generals al-Sisi. Zwar verbreiten regierungsnahe Medien Verschwörungstheorien, die von »ausländischen Komplotten gegen Ägypten« sprechen, doch westliche Ausländer konnten in Ägypten bisher davon ausgehen, bei Verhaftungen körperlich unversehrt zu bleiben. Für Ägypter, vor allem für verhaftete Islamisten, war der »tiefe Staat«, in dem Folter auf Polizeistationen dazugehört, nie verschwunden. Selbst Angaben der Gerichtsmedizin des ägyptischen Innenministeriums zufolge kamen im Jahr 2014 allein in den Polizeistationen und Gefängnissen von Kairo und Giza 90 Menschen ums Leben. Vor dem fünften Jahrestag der Revolution führten die ägyptischen Autoritäten eine beispiellose Kampagne gegen die liberale und linke Opposition. In der Kairoer Innenstadt, die lange Zentrum kultureller und politischer Aktivitäten war, wurden nach einer Schätzung von Mada Masr 5 000 Wohnungen durchsucht. Den Angaben dieser Nachrichtenseite zufolge wurden dabei neben 65 Syrern und Libyern, die wegen illegaler Einreise inhaftiert wurden, auch 47 Ausländer aus Europa und Asien wegen abgelaufener Visa verhaftet.
Die Ermordung Regenis hat die gravierenden Menschenrechtsverletzungen des Sisi-Regimes wieder in das Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit gerückt. In einem offenen Brief haben 4 600 Akademiker aus 90 Ländern die ägyptische Regierung aufgefordert, alle Fälle von »Verschwinden, Folter und Tod in Polizeihaft«, die sich vor dem fünften Jahrestag der Revolution ereignet haben, zu untersuchen. Bis zuletzt waren auch europäische Regierungen bereit, die Brutalität der ägyptischen Regierung als unvermeidlichen Preis im Kampf gegen den militanten Islamismus zu sehen – und nicht beide als sich gegenseitig bedingende rückwärtsgewandte Kräfte in der arabischen Welt. Noch im Sommer 2015 bezeichnete der italienische Präsident Matteo Renzi General al-Sisi als »den Einzigen, der Ägypten in der aktuellen Situation retten kann«.