Marlis Prinzing im Gespräch über Medienkritik und Medienethik

»Wir müssen unterscheiden zwischen Meinung und Hass«

Marlis Prinzing ist Professorin für Journalistik an der Macromedia-Hochschule für Medien und Kommunikation in Köln. Die »Jungle World« sprach mit ihr über die Verantwortung der Medien im Fall von Köln und über falsche und richtige Informationen.

Was ist schiefgelaufen in der Berichterstattung nach Köln?
Es ging ja unter anderem um die Vermutung, dass die Täter, die sexuell übergriffig waren, nordafrikanischer Abstammung sind. Da würde der Presse­kodex in seiner Richtlinie 12 empfehlen, dass man die Zugehörigkeit eines Täters zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Nation nur dann nennt, wenn man erst damit eine Straftat verstehen kann. Ein sexueller Übergriff ist ja nicht notwendig mit einer bestimmten Religion verbunden. Momentan kommen viele Menschen anderer Religionen und Ethnien als Flüchtlinge nach Deutschland. Dadurch verstärken sich Ängste, aber auch Zuschreibungen, die Klischees bestätigen. Ich hätte es besser gefunden, wenn im Fall von Köln die Richtlinie 1 des Pressekodex, die »wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit«, über die Richtlinie 12 gestellt worden wäre: Man hätte besser die im Raum schwebende Vermutung, Flüchtlinge könnten die Täter gewesen sein, direkt angesprochen. Anders gesagt: benennen, was man weiß. Sachgerecht gewesen wäre in diesem Fall, zu schreiben: »Die Nationalität der Täter ist noch nicht festgestellt.« Was nicht hilft, ist Schweigen. Oder sich darauf zurückziehen, dass die Polizei noch keine Pressemitteilung herausgegeben hat. Journalisten können und sollen auch selber recherchieren und ihrem Augenschein trauen, was auch einige getan haben.
Sie haben gerade die Richtlinie 12.1 angesprochen, in der geschrieben steht, dass die Ethnie oder Gruppenzugehörigkeit eines Täters nur unter bestimmten Bedingungen genannt werden darf. Was ist daran falsch?
Die Richtlinie als solche ist überhaupt nicht falsch. Man muss aber den Pressekodex als das sehen, was er ist: eine Grundlage, um Abwägungen vorzunehmen. Die Richtlinien im Kodex sind Instrumente, die man auf den konkreten Fall angepasst kombinieren und anwenden muss. Die Medienethik ist im Kern ein Diskurs: Der Kodex besteht aus allgemeinen Empfehlungen, wie man in bestimmten Situationen berichten sollte. Die Richtlinie 12 ist nicht überholt, aber in der Situation in Köln war meiner Ansicht nach ein anderer Teil des Pressekodex’ wichtiger.
Sie forden, dass man das Publikum nicht bevormunden soll.
Mir geht es um Versachlichung. Zu dieser können Journalisten ganz viel beitragen und sie stärken dabei zugleich ihre eigene Glaubwürdigkeit. Journalisten können und müssen dem Publikum zumuten, sich damit auseinanderzusetzen. Es geht nicht darum zu sagen: »Ich kann meinem Publikum nicht zumuten, wenn es bestimmte Auffälligkeiten gibt bei Straftaten in bestimmten Milieus. Gerade durch eine differenzierte und sachgerechte Berichterstattung tragen Journalisten dazu bei, dass das Publikum sich eine Meinung bilden kann. Das hat nichts mit Erziehen oder Bevormunden zu tun.
Wie hat der Journalismus reagiert auf die wachsende Medienkritik, auf den Vorwurf der »Lügenpresse«?
Teilweise wurde mit Wegschauen reagiert, teilweise wurde diese Kritik ernst genommen. Das Thema hat drei Seiten. Erstens: Wir brauchen Medienkritik, Journalisten müssten eher noch viel kritischer denn je mit ihren eigenen Fehlern umgehen. Kritik an Medien ist genauso nötig wie Kritik an der Politik und der Wirtschaft. Zweitens: Diese Kritik muss konstruktiv sein, eine pauschale Verurteilung als »Lügenpresse« ist nicht nur falsch, sondern verkennt auch, wie bedeutsam ein kritisch reflektierender Journalismus für uns alle ist. Drittens: Dieses Verantwortungsbewusstsein entsteht vor allem über eine medienethische Orientierung, anhand derer man sich bewusst überlegt: Was teile ich mit, welche Informationen veröffentliche ich und warum?
Nach Köln gab es auch Selbstkritik der Medien. Läuft man dabei nicht Gefahr, rechte Verschwörungstheorien nachzuplappern? Ist es nicht falsch zu sagen, da wurde etwas bewusst verschwiegen?
Ich glaube, dass die medienethische Abwägung in vielen Redaktionen nicht geläufig ist. Da müsste man ansetzen. Ich habe dazu eine Analyse gemacht, wie verbreitet Medienethik denn eigentlich in der Ausbildung an den Journalistenschulen und den Journalismus-Studiengängen an den Universitäten ist. Da gibt es einige Leuchttürme, aber es ist dennoch viel zu wenig, was im deutschsprachigen Raum berufsvorbereitend gelehrt wird. Da sind uns die USA deutlich voraus.
Sie sagen, man müsse auch »klare Kante« zeigen.
Wir müssen unterscheiden zwischen Meinung und Hass. Wer in Kommentaren schreibt, man solle in Konzentrationslagern wieder die Öfen anheizen, wer Morddrohungen äußert oder, wie etwa in Köln, Journalisten Krebs wünscht, äußert keine Meinung. Das ist eine Beschimpfung. Hass ist keine Meinung. Gegenüber solcher Kommentatoren müssen Journalisten und Medienhäuser entschieden auftreten. Das sind Straftatbestände, die bringt man zur Anzeige.
Sie haben geschrieben: »Die Arbeit der Polizei kritisch zu beobachten, ist Teil des Auftrags an professionellen Journalismus.« Im Alltag ist aber oft zu beobachten, dass etwa nach Demonstrationen der Polizeibericht einfach abgeschrieben wird. Ist das nicht das größere Problem als vermeintliche Selbstzensur hinsichtlich migrantischer Kriminalität?
Manche Journalisten hinterfragen generell Pressemitteilungen nicht hinreichend, besonders dann, wenn sie von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft kommen. Eigentlich hätte man da auch aus den Fehlern der Berichterstattung rund um den NSU lernen können, denn da war genau das ein Teil des Problems, wie eine von der Otto-Brenner-Stiftung in Auftrag gegebene Studie nachweist. Das lässt sich ein Stück weit auf Köln übertragen: Wenn die Polizei mitteilt, es sei nichts passiert, man aber etwas anderes sieht, zumal die eigene Redaktion mitten in Köln sitzt, dann ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, weshalb man nicht dem eigenen Augenschein traut oder bei weiteren Quellen nachfragt, sondern einfach wartet. Da muss der Journalismus wieder deutlich selbstbewusster werden. Teil des Problems ist aber auch, dass viele Redaktionen unter einem sehr hohen, weiter wachsenden zeitlichen und ökonomischen Druck stehen und Personal fehlt. Da leidet automatisch die Qualität der Arbeit. Bezogen auf das Urteil über das Verhalten der Polizei an Silvester muss man im Fall Köln auch speziell berücksichtigen, dass lange Zeit von der Kölner Polizei im Grunde erwartet wurde, dass sie einfach den feiernden Kölner feiern lässt. Dass sie da wirklich drei Augen zudrückt.
Sie fordern einen medienethischen Kompass auch für das Publikum. Wie könnte der aussehen?
Man sollte Kernaussagen des Pressekodex auch dem Publikum gezielt bekannt machen. Beispielsweise sollte in einem Schulfach Medienkompetenz oder Medien gelehrt werden, was etwa verunglimpfende Veröffentlichungen bei anderen anrichten können. Umgekehrt sollten Jugendliche auch lernen, welche Möglichkeiten sie haben, sich vor Übergriffen, beispielsweise in sozialen Netzwerken, zu schützen. Da besteht eine große Wissenslücke, denn wir haben durch die digitale Mediengesellschaft eine Situation, in der ein ebenfalls publizierendes Publikum existiert. Dieses publizierende Publikum kann genauso viel anrichten oder gutmachen wie andere Leute, die publizieren, die aber vorher eine Ausbildung hatten.