Der Ursprung von Social-Media-Hysterien

Zu spät für Aufklärung

Die »Lügenpresse« ist nicht erst mit Pegida entstanden. Das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen ist in sozialen Netzwerken bei Rechten wie Linken schon lange vorhanden.

Was die gemeine Lügenpresse tut, ist schnell erklärt: Nicht haargenau das schreiben oder senden, was der Meinung des nicht minder gemeinen ­Lügenpresse-Schreiers entspricht. So einfach ist das – und so einfach ist das auch wieder nicht. Denn das Misstrauen Journalisten gegenüber ist nicht nur unter denjenigen groß, die mit großem Vergnügen auf Pegida-­Demonstrationen Rednern zujubeln, die Journalisten als »Pack« bezeichnen, welches mit Mistgabeln aus den Redaktionen herausgejagt gehöre. Auch Menschen, die sich als links oder irgendwie kritisch bezeichnen, neigen dazu, Berichte, die nicht ins eigene Weltbild passen, für erlogen zu halten. Zusammen mit der überall in sozialen Netzwerken grassierende Leseinkompetenz kann das zu erstaunlichen Ergebnissen führen.
Im Fall der Fakegeschichte über einen Ende Januar angeblich verstorbenen Syrer am Berliner Lageso hatten beispielsweise nur wenige User die ersten Artikel zur Gänze gelesen oder gar verstanden. Sofort bildete sich auf Twitter eine empörte Masse, die lautstark beklagte, dass »schon wieder« jemand am Lageso »erfroren« sei, und »wie viele Tote es denn noch« geben müsse. Mit Fakten zu argumentieren, erwies sich zunächst als ähnlich unmöglich wie einige Wochen zuvor, als viele fest davon überzeugt waren, in der Kölner Silvesternacht sei es zu »tausendfachen Vergewaltigungen« gekommen.
Nun unterscheiden sich rechte Verschwörungstheoretiker von allen anderen Leuten, die Überschriften zur Hälfte lesen und sofort Bescheid wissen, darin, dass sie ihre Informationen fast nur noch von Hetzpublikationen beziehen und alle Journalisten am liebsten an Laternenpfählen aufhängen würden – und nicht, wie manche Linke, bloß »die von Springer«.
Aber woran liegt es, dass das Schlagwort von der Lügenpresse so populär wurde? Mit »RT Deutsch« haben rechte Wutbürger seit November 2014 einen eigenen Fernsehsender, der unter anderem Pegida- und Legida-Kundgebungen live überträgt, allerdings greift man dort auch Themen wie rassistische und flüchtlingsfeindliche Karnevalswagen auf, die in diesen Kreisen ­eigentlich für ganz besonders lustig gehalten werden. Der Hass auf »die Presse«, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Grüne, Linke, Amerikaner und Israel begann aber nicht erst mit dem Sendebeginn des russischen Propagandasenders. Verschwörungstheoretische Websites sind so alt wie das Internet, allerdings wurden Leute, die etwa an Chemtrails, die gezielte Versklavung der Menschheit und Strahlen, die Gedanken beeinflussen, glauben, lange als harmlose Spinner gesehen. Dazu passt, dass in Boulevardzeitungen, Talkshows und Illus­trierten regelmäßig Themen auftauchten, die eigentlich nichts weiter waren und sind als Verschwörungstheorien, teilweise vorgetragen von ausgiebig zu Wort kommenden Leuten, die heute eindeutig als antisemitische, rassistische, rechte Hetzer gelten. Interessierte Leser und Zuschauer, die sich im Internet weiter informieren wollen, geraten bei ihren Suchen oft in bestens vorbereitete und vernetzte Foren und auf Websites, die das bieten, was verunsicherte Menschen nicht erst seit Pegida so massenhaft zu suchen scheinen: Einfache Erklärungen, klare Schuldige und das Gefühl, zu den wenigen Eingeweihten zu gehören, die den Lauf der Welt verstehen.
Dabei ist es nicht nur Pegida zu verdanken, dass mittlerweile jede bessere Kleinstadtzeitung sich ihre eigene verschwörungstheorethische Koryphäe hält. Im vergangenen Sommer zeigte etwa der Ausbruch der Masern, dass Impfgegner Menschen erreichen, die mit dem landläufigen Bild vom arbeitslosen, leicht trotteligen und sozial isolierten Verschwörungstheoretiker nichts gemein haben. Über die Impfgegner und das auch von ihnen propagierte Misstrauen gegenüber der Presse wurden sie dann empfänglich für weitere Lügenpropaganda. Ist das reversibel? Vermutlich nicht. Denn für Aufklärung ist es längst zu spät – sie wird als Desinformation betrachtet und erreicht diejenigen, die mit den einfachen Erklärungen zufrieden sind, schon lange nicht mehr.