Brasilien erlebt die größte Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren

Bleiern in die Rezession

In Brasilien herrscht Krisenstimmung. Korruptionsvorwürfe, wirtschaftliche Rezession und Ideenlosigkeit machen der regierenden Arbeiterpartei zu schaffen. Ein baldiges Ende ist nicht in Sicht.

Das neue Jahr beginnt in Brasilien bekanntlich erst nach dem Karneval. Auch das Parlament, in dem es seit der Wiederwahl von Präsidentin Dilma Rousseff Ende 2014 keine stabilen Mehrheiten mehr gibt, legte nach einigen Sitzungstagen Anfang Januar zur »fünften Jahreszeit« erneut die Arbeit nieder. Ein Hohn sei das »angesichts der heftigen Krise und der vielen wichtigen zu treffenden politischen Entscheidungen«, urteilte die Tageszeitung O Povo. Die Krise resultiert aus der Kombination von Inflation, Haushaltsdefizit, sinkendem Bruttoinlandsprodukt und dem Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras (Jungle World 37/2015); sie hat weniger Investitionen und eine Rezession zur Folge, zudem droht ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin. Auf dem Spiel steht das Projekt der seit 2003 regierenden Arbeiterpartei (PT), das aus den Armen Brasiliens eine »neue Mittelklasse« und Brasilien dauerhaft zu einem global player machen sollte.
Am 17. Februar stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s Brasiliens Bonität auf »BB« herab. Investitionen und Anlagen in dem Land gelten nun als spekulativ, da mit möglichen Ausfällen zu rechnen sei. Selbst O Globo, die konservative Zeitung des mächtigen Medienkonzerns Rede Globo, ansonsten nie um eine politische Attacke gegen die Regierung Rousseff verlegen, ließ diesmal den Ökonomen Fabio Silveira sagen: »Nicht nur die Regierung hat Fehler gemacht, sondern auch die Opposition, die sich seit mehr als einem Jahr weiterführenden Haushaltsanpassungen verweigert.« So wuchsen seit Beginn 2015 die öffentlichen Schulden um 66 Prozent auf umgerechnet 136 Milliarden Euro. Wirtschaftsliberale Ökonomen werden dagegen nicht müde, unter Missachtung der globalen Konjunktur und innenpolitischer Machtkämpfe, allein dem PT die Schuld an »der größten Krise seit 1930« zu geben. Über Jahre habe die Regierung zu hohe Sozialausgaben getätigt und zu lange niedrige Benzin- und Strompreise gestützt, in der Hoffnung, dauerhafte Impulse für die individuelle Nachfrage und die Wirtschaft im Allgemeinen zu setzen. Für die Regierung ist diese Politik dagegen der Schlüssel für eine an den Export von Rohstoffen gekoppelte gesellschaftliche Umverteilung. Doch der Preisverfall auf den internationalen Märkten zwang sie Anfang 2015, von ihrer gewohnten Linie abzuweichen. Die jährlichen öffentlichen Ausgaben wurden um 15 Milliarden Euro gekürzt, davon allein zwei Milliarden im Bildungswesen. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins.
»Austeritätspläne haben noch nie funktioniert«, warnte der Wirtschaftswissenschaftler João Sicsú von der Staatlichen Universität Rio de Janeiros (UFRJ) ein halbes Jahr später. »Sie verringern lediglich das Einkommen der Bedürftigsten, schwächen den Handel und senken die Steuereinnahmen.« Sicsú sollte Recht behalten, denn seither gingen anderthalb Millionen Arbeitsplätze in Brasilien verloren, die Inflationsrate stieg auf über zehn Prozent, allein im Automobilsektor brach die Produktion um ein Viertel ein und für 2016 wird eine Rezession von bis zu vier Prozent prognostiziert; bereits im vorigen Jahr schrumpfte die Wirtchaftsleistung um geschätzte 3,7 Prozent. Erneutes Wachstum wird von allen bedeutenden politischen Lagern nun als der einzige Ausweg angesehen. Die befürworteten Mittel sind jedoch unterschiedlich. Während das Regierungslager die Vermögenssteuer erhöhen und eine im Jahr 2007 vom PT abgeschaffte Transaktionssteuer wieder einführen will, schweben der Rechten weitere Kürzungen der Sozialausgaben und eine Teilprivatisierung der künftigen Offshore-Ölförderung vor.
Um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, droht die Opposition seit Monaten zudem mit der Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens. Doch die Indizien, dass Präsidentin Rousseff als ehemalige Leiterin von Petrobras eine Mitschuld an dem im März 2014 bekannt gewordenen Korruptionsskandal hatte, sind wenig aussagekräftig. Dennoch hätte es im vergangenen Jahr für einen »legalen Putsch« im Parlament eine Mehrheit gegeben, wenn es Parlamentspräsident Eduardo Cunha vom abtrünnigen Koalitionspartner, der Mitte-Rechts-Partei PMDB, nur gewollt hätte. Doch Cunha geriet in die Defensive, als schwarze Kassen unter seinem Namen in Schweizer Banken entdeckt wurden. Er versprach, alle mit in den Abgrund zu reißen, sollte ihm die politische Immunität entzogen werden. Noch übt sich Cunha, der die Schwäche der Regierung nutzte, um sich im Namen eines parteiübergreifenden Bündnisses aus Waffenlobby, Agrarindustrie und Evangelikalen für die Aushöhlung des Arbeitsrechts, die weitere Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und die rechtliche Benachteiligung von Homosexuellen zu engagieren, in Durchhalteparolen. In der vergangenen Woche verlor sein Wunschkandidat Hugo Motta jedoch den Kampf um den Parteivorsitz des PMDB knapp an Leonardo Picciani, dessen Flügel als PT-loyal gilt. »Die Regierung muss nun die Agenda für die wirtschaftliche Wiederbelebung setzen und der Kongress muss seinen Teil zum Gelingen beitragen«, sagte Picciani nach seiner Wahl.
Kritiker befürchten, dass der Preis für die politische Einigung zwischen PT und PMDB hoch war. Rousseff habe die Ausbeutung des Offshore-Öls durch private Unternehmen gebilligt, um »ihren Hals zu retten«, mutmaßte die Wochenzeitung Carta Capital. Doch bei einem Weltmarktpreis von circa 30 Euro pro Barrel ist dieser Deal derzeit nicht sonderlich lukrativ – bei der letzten Versteigerung von konventionellen Förderkonzessionen konnte Petrobras nur für 14 Prozent der Projekte Käufer finden. Da die Wirtschaftspolitik des PT derzeit jedoch keine Alternative zu einem extraktivistischen Modell formuliert, müssen Investitionsanreize geschaffen werden. So sollen künftig Umweltstudien »erleichtert« werden, um den Ausbau der Infrastruktur und die Energiegewinnung schneller und kostengünstiger zu gestalten. Dafür werden ohne viele Auflagen öffentliches Land und Gewässer verkauft oder verpachtet, die bisher von indigenen Gemeinden, Kleinbauern, Fischern oder Landbesetzern genutzt wurden. Die Eigentumstitel sind oft nicht verbrieft, Konflikte absehbar.
Und die sozialen Bewegungen? Mediale Aufmerksamkeit erregten in den vergangenen Monaten vor allem die Schulbesetzungen in São Paulo und die erneuten Proteste gegen Tariferhöhungen im Nahverkehr in einigen Städten (Jungle World 7/2016); in Rio de Janeiro gab es einige Kundgebungen gegen die Olympischen Spiele. Aber ein allgemeines Aufbegehren wie während des »brasilianischen Frühlings« 2013 liegt nicht in der Luft, obwohl die meisten der politischen Forderungen nicht erfüllt wurden. Busfahren wird immer noch teurer, tödliche Polizeigewalt gegen die Bewohner von Favelas, insbesondere Schwarze, bleibt weiterhin ungestraft und die Wahlkampffinanzierung durch Privatspenden ist kürzlich erleichtert worden.
Trotz allem würde, wenn derzeit Wahlen stattfänden, der PT erneut das Präsidentschaftsamt erobern, wenn das ehemalige Staatsoberhaupt Luiz Inácio Lula da Silva zur Verfügung stünde. Kürzlich musste die Militärpolizei in São Paulo, wo er wegen eines äußerst vagen Korruptionsvorwurfs aussagen sollte, gewaltsame Zusammenstöße Tausender seiner Anhänger und Gegner vor einem Gerichtsaal beenden. Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, das Image des letzten Hoffnungsträgers des PT zu zerstören. Doch ein politisches Comeback kann es für Lula frühestens 2018 geben. Brasilien drohen drei bleierne Jahre.