100 Jahre Dada

Manifeste starren

100 Jahre Dada: Die Kunst wurde revolutioniert, die Lebenspraxis blieb auf halbem Weg in den bürgerlichen Strukturen stecken.

»Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blu­tige Pose«, schrieb Hugo Ball in seinen Aufzeichnungen »Flucht aus der Zeit« und fasste so zusammen, was zur Gründung von Dada führte.
Den Bankrott der Ideen sah Ball im Ersten Weltkrieg manifestiert, der ihn genauso wie Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck, Tristan Tzara und Marcel Janco in die neutrale Schweiz verschlagen hatte. Ab Anfang Februar 1916 begannen sie von Zürich aus ihren eigenen Feldzug gegen die Verlogenheit der Kunst zu führen, die der aus den Fugen geratenen Welt völlig unangemessen war.
Kunst hatte in ihren Augen die Funktion als Ort der kontemplativen Versenkung verspielt, die Dadaisten reagierten mit der »Entwürdigung des Materials«, wie Walter Benjamin in »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« schrieb: Gedichte wurden zu Wort­salat, der Abfall der Sprache ging in die Lyrik ein, ebenso wie einige Jahre später in die Collagen des Hannove­raner Dadaisten Kurt Schwitters. »Das durch den Dadaismus provozierte Verhalten ist: Anstoß nehmen«, heißt es weiter bei Benjamin. Dada machte Kunst zum Skandal, zur Provokation eines Publikums, das im Angesicht des Krieges dennoch am liebsten kontemplativ in der Kunst versunken wäre.
Hans Richter, der spätere Pionier des experimentellen Films, erinnert sich an seine Zeit in Zürich: »Klingeln, Trommeln, Kuhglocken, Schläge auf den Tisch oder auf leere Kisten belebten die wilde Forderung der neuen Sprache in der neuen Form und erregten, rein physisch, ein Publikum, das anfänglich völlig benommen hinter seinen Biergläsern saß.« Die Suche nach einer neuen Sprache schlug sich nieder in den Lautgedichten, den Antikriegs-Chansons von Emmy Hennings, dem Geschrei und dem Lärm der Trommeln. »Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andere erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen«, formulierte Ball im Manifest des ersten Dada-Abends und forderte das Publikum heraus. »Mit diesen Tongedichten wollten wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch den Journalismus. Wir müssen uns in die tiefste Alchimie des Wortes zurückziehen und selbst die Alchimie des Wortes verlassen, um so der Dichtung ihre heiligste Domäne zu bewahren.« Während sich hier schon subtil Balls spätere Hinwendung zum Katholi­zismus andeutete, war von Innerlichkeit in den Veranstaltungen der Dadaisten in Zürich 1916 noch nichts zu spüren.
Hugo Ball und Emmy Hennings hatten sich 1914 in München kennengelernt und ab 1915 »ein Beisammensein beschlossen«, wie Hennings den Beginn ihrer Beziehung laut Balls Tagebuch umschrieb. Gemeinsam mit Richard Huelsenbeck traten die beiden in Berlin bei Expressionismus-Abenden auf und gingen schließlich 1915 ins Zürcher Exil – ein Neubeginn für Hennings, die gerade mehrere Gefängnisaufenthalte wegen Diebstahls, Passfälschung und des Verdachts auf Beihilfe zur Fahnenflucht verbüßt und davon »einen Knacks, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt«, zurückbehalten hatte, wie sie im Text »Gefängnis« von 1919 schrieb.
In Zürich gründeten Ball und Hennings im Februar 1916 in der Spiegelgasse das Cabaret Voltaire als offene Bühne, die sich zunächst nicht wesentlich von einem klassischen Kabarett-Club unterschied. Hans Richter: »Emmy Hennings sang Chansons. Ball begleitete sie auf dem Klavier. Balls Persönlichkeit zog sofort eine Gruppe von Künstlern und Gleichgesinnten an.« Gemeinsam mit diesen Gleichgesinnten, mit Tzara, Janco, Huelsenbeck und später auch Hans Richter, Walter Serner, Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, begannen sich die Abende weiterzuentwickeln zu dem, was ab April 1916 dann schließlich Dada genannt wurde – mit halbem Ohr begleitet von einem, der im Jahr darauf Weltgeschichte schreiben sollte: Schräg gegenüber dem Cabaret Voltaire wohnte Lenin, der allerdings, wie Emmy Hennings 1934 schrieb, »natürlich keine Zeit hatte, unsere Vorstellung zu besuchen. Er muss die lauten, bruitistischen Konzerte wohl wahrgenommen haben, doch ließ er sich dadurch offenbar nicht stören.«
Was die Dadaisten neben der Abscheu vor dem Bankrott der Menschheit im Ersten Weltkrieg vereinte, war die Ablehnung einer bürgerlichen Idee von Kunst, die sich einerseits völlig von der Lebenspraxis entkoppelt hatte und gleichzeitig, wie Herbert Marcuse später in Anlehnung an Marx formulieren sollte, eine reine Trostfunktion erfülle und letztlich gesellschaftlich folgenlos blieb. »Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert«, forderte daher Richard Huelsenbeck in seinem »Dadaistischen Manifest«.
Die Grenze zwischen Kunstwerk und außerkünstlerischer Realität überschritten die Dadaisten nicht nur bei ihren Dada-Soireen, sondern vor allem in ihren zahlreichen Manifesten, dem literarischen Medium, das Dada wie keine andere künstlerische Bewegung vor ihnen genutzt hat. Die Manifeste waren die Waffe, um das bürgerliche Publikum aus der Ruhe zu bringen. Sie richteten sich gegen die Tradition dieser Textgattung, um mit ihren paradoxen Strukturen die Leser und Zuhörer in die völlige Orientierungslosigkeit stürzten. »Dada ist eine neue Kunstrichtung«, proklamierte etwa Hugo Ball in einem Manifest vom Sommer 1916, während Huelsenbeck in einem anderen Manifest darauf bestand: »Dada bedeutet nichts.« Dada verweigerte sich den Eindeutigkeiten, setzte auf Widersprüche und Verwirrung, verstand sich mal als eine neue Kunst, mal als Antikunst, mal wurde der »neue Künstler« heraufbeschworen, und mal der politische Aktivismus der Kunst übergeordnet: »Der Dadaismus fordert die interna­tionale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus«, forderte das Manifest. »Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?«
Es entstanden zwar Manifeste, die, ähnlich wie andere Avantgarden der Moderne, positiv formulierte Forderungen vorbrachten, wichtiger wurden für Dada jedoch jene Manifeste, die sich selbst an die Stelle setzten, die zuvor das Kunstwerk innehatte. Sie knüpften an die Form des Manifestes an, transportieren die Inhalte allerdings nicht mehr so, dass Form und Inhalt zur Deckung zu bringen waren. Die widersprüchlichen Forderungen wurden zu einem Charakteristikum von Dada. »Dada ist das Leben ohne Pantoffeln und Parallelen; das für und gegen die Einheit ist und entschieden gegen die Zukunft«, schrieb Tristan Tzara im »Manifest des Herrn Antipyrine« und trieb die Widersprüche auf die Spitze. Sein Manifest thematisiert das Schreiben eines Manifests, lehnt Theorien ebenso ab wie die Logik, bleibt jedoch nicht bei dieser Ablehnung stehen, sondern ist selbst alogisch aufgebaut. Im Gegensatz zu Hugo Ball, der die Zerstörung der Sprache zwar thematisierte, sie jedoch in den Manifesten benutzte wie zuvor, wurde bei Tzara das Ende der Logik der Sprache nicht mehr nur auf inhaltlicher Ebene vermittelt, das Ende der Logik war gleichzeitig auch sinnlich er­fahrbar.
Ihre Vollendung fand diese Setzung des Manifestes an die Stelle des Kunstwerks in »Letzte Lockerung« von Walter Serner, der Dada hin zum Verstummen trieb, indem sich der Text selbst in Frage stellte. Was die Manifeste einte, war ihr antibürgerlicher Gestus, die Zurückweisung konventioneller Kunstauffassungen, die Zerschlagung des Herkömmlichen und der Kunst sowie die Betonung des internationalen Charakters der Bewegung – bei allen sonstigen inhaltlichen und formalen Unterschieden.
In der Tat wanderte Dada ausgehend von Zürich weltweit in die Kunstszenen der Metropolen, in New York und Paris, Köln und Hannover und vor allem in Berlin ein, wo eine politische Radikalisierung der Bewegung stattfand. Nach dem ersten großen Dada-Abend außerhalb des mittlerweile geschlossenen Cabaret Voltaire, im Zunfthaus Zürich am 14. Juli 1916, symbolisch zum Jahrestag der Französischen Revolution, hatte sich die Gruppe weitestgehend aufgelöst. Ball und Hennings verließen im Herbst die Stadt, Huelsenbeck ging zum Medizinstudium zurück nach Berlin, einzig Tzara, Janco und Arp, später auch unterstützt von Walter Serner und Hans Richter, betrieben in Zürich weiter ­Galerien, planten Ausstellungen und Publikationen, ­bevor nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auch dieser Zusammenschluss wieder zerfiel.
Huelsenbeck nutzte die revolutionäre Nachkriegszeit in Berlin, um gemeinsam mit Franz Jung, Raoul Hausmann, George Grosz, Walter Mehring, John Heartfield und anderen die politische Ausformung von Dada weiter voranzutreiben. Das revolutionäre Russland wurde ebenso zum Vorbild wie das amerikanische Großstadtleben, Themen waren soziale und wirtschaftliche Realitäten und weiterhin die Verkommenheit der Gesellschaft. Huelsenbeck im »Dadaistischen Manifest« vom April 1918: »Der Dadaismus steht zum ersten Mal dem ­Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, ­indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.«
Hinter dem Kriegsvokabular der Avantgardebewegungen – dem Zerschlagen, dem Zerfetzen, dem In-Grund-und-Boden-Trommeln – und dem unbedingten Willen, die bürgerlichen Vorstellungen von Moral und Kunst aufzulösen, um den neuen Menschen zu erschaffen, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass es weniger um einen neuen Menschen als vielmehr um einen neuen Mann zu gehen schien – für Frauen waren ­weiterhin die klassischen Rollen ­vorgesehen. Statt auch die bürgerlichen Vorstellungen der Geschlechterrollen zu zerschlagen, reproduzierte man ausgerechnet an dieser Stelle die gängigen konservativen Muster und wies den Frauen die Funktion der Anhängsel, Musen und Ehefrauen zu. »Die meisten männlichen Kollegen betrachteten uns lange Zeit als reizende, begabte Amateure, ohne uns je einen beruflichen Rang zuerkennen zu wollen«, erinnerte sich Hanna Höch einige Jahre später.
Die Bedeutung von Frauen für die Geschichte von Dada wurde in den zahlreichen Autobiographien und Erinnerungsbüchern der Protagonisten ignoriert, geschmälert oder schlichtweg aus der Geschichte getilgt. »Sie war nie Mitglied des Clubs«, schrieb etwa Raoul Hausmann über seine Geliebte Höch, die dagegen seufzte: »Wenn ich nicht viel meiner Zeit dafür aufgewendet hätte, mich um ihn zu kümmern und ihn zu ermutigen, hätte ich selbst mehr erreicht.« Ina Boesch beschreibt in ihrem Buch »Die Dada«, das dieser üblichen Ignoranz Porträts unzähliger Künst­lerinnen, Tänzerinnen, Galeristinnen, Verlegerinnen und Mäzeninnen, die Dada mitgeformt haben, gegenüberstellt, eine Begebenheit aus der Pariser Dada-Szene. Dort hatte die Autorin Céline Arnold mit »Ombrelle Dada« als eine von wenigen Frauen, ein eigenes Manifest zum überschäumenden Output der Männer beigetragen und vor allem 1920 die Avantgardezeitschrift Projecteur ins Leben gerufen, für die unter anderem Paul Eluard, Francis Picabia, Tristan Tzara, Philippe Soupault, André Breton und Louis Aragon Beiträge verfassten.
Dennoch sucht man nach dem ­Namen Céline Arnold in Tzaras Dada-Geschichtsschreibung aus den Zwanzigern vergeblich. Warum er sie vergessen habe, wo er sogar »sehr großzügig gegenüber seinen Feinden« gewesen sei, wollte Arnold in einem Brief von ihm wissen – und bekam keine Antwort. »Wie konnte er ihre Existenz in Dada ignorieren, wenn sie doch von Anbeginn in der Pariser Szene prägend gewesen war und regelmäßig in den vielen Dada-Zeitschriften veröffentlicht hatte?« fragt Boesch und fährt fort: »Mit der euphemistischen Wortwahl ›vergessen‹ deutete Arnold an, dass sie hinter ihrer Verbannung aus dem Olymp der Pariser Dadaisten einen bewussten Akt und nicht lediglich ein Versehen vermutete.«
Die rückblickenden Erinnerungsbücher der Hauptvertreter der (Anti-)Kunstrichtung waren von Streitereien über die korrekte Definition von Dada, um die Namensfindung und die Betonung der eigenen Bedeutung geprägt, die Beiträge der Frauen interessierten sie dagegen wenig. Dabei hatten sich Künstlerinnen durchaus eine wichtige Stellung innerhalb von Dada erkämpft und hinter den Kulissen für dessen Verbreitung gesorgt, nur um nun, wenige Jahre später, wieder übergangen zu werden. »Die meisten Bewegungen haben feste Konzepte, zu denen sie sich hinbewegen, wir bewegen uns von allen Konzepten fort, um vorwärtszukommen«, hatte Mina Loy noch hoffnungsvoll in ihrem Manifest »Internationale Psycho-Demokratie« verkündet.
Dada hatte Frauen einen Raum ­geboten, Teil der Kunstszene zu werden, mit eigenen Programmen die offenen Abende mitzugestalten, ihre Kunst auszustellen, Möglichkeiten, die Frauen in der elitären Kunstszene dieser Zeit sonst verwehrt blieben. In dem Moment jedoch, in dem Dada selbst zu einem Erfolgsrezept wurde, ins Museum drängte und mit den Erinnerungsbüchern der Kampf um die Definition der Bewegung eröffnet war, schlossen sich diese Räume sogleich wieder. Emmy Hennings etwa fand für die ebenfalls die Gefängnisthematik behandelnden autobiographischen Bücher »Das graue Haus« und »Das Haus im Schatten« keinen Verleger mehr, sie sind erst heute als Teil einer Werkausgabe zugänglich, ebenso wie ihre Spuren in der Dada-Geschichte im liebevoll gestalteten Buch »Emmy Hennings Dada« erst anlässlich des 100. Dada-Jubiläums aufgezeigt worden sind.
Wie viele Spuren anderer Frauen der Dada-Geschichte endgültig verloren sind, will man sich gar nicht ausmalen. Dada wollte das Leben durch die Kunst revolutionieren, und revolutionierte dabei die Kunst. Statt aber das revolutionäre Potential auszuschöpfen, neue role models zu etablieren und den Strukturen des Kunstmarktes tatsächlich eine neue Lebenspraxis entgegenzusetzen, blieb der Männerverein Dada auf halbem Wege in der eigenen bürgerlichen Lebensweise stecken. Dieser Ignoranz war Mina Loy schon 1914 mit ihrem »Feminist Manifesto« entgegengetreten und hatte von Künstlerinnen gefordert: »Hört auf, euch mit Männern zu vergleichen, um zu wissen, was ihr nicht seid. Bemüht euch, in euch selbst herauszufinden, was ihr seid.«
Ina Boesch (Hg.): Die Dada. Wie Frauen Dada prägten. Zürich 2015, Verlag Schei­deg­ger & Spiess, 164 Seiten, 29 Euro
Christa Baumberger, Nicola Behrmann: Emmy Hennings Dada. Zürich 2015, Verlag Scheidegger & Spiess, 236 Seiten, 48 Euro
Christa Baumberger, Nicola Behrmann (Hg.): Gefängnis. Das graue Haus. Das Haus im Schatten. Emmy Hennings Werke und Briefe. Göttingen 2016, Wallenstein-Verlag, 576 Seiten, 24,90 Euro