Der europäische Rechtsnationalismus und die Flüchtlingspolitik

Die autoritäre Versuchung

Für europäische Rechtsnationalisten ist die Flüchtlings­politik nur Mittel zum Zweck.

Ist es Hysterie? Ist es Opportunismus? Oder steckt ein Plan dahinter? Mit der sogenannten Flüchtlingskrise ist der rechtspopulistische Trend in der europäischen Politik jedenfalls nicht zu erklären. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine logistische Aufgabe und eine gesellschaftliche Herausforderung, mehr aber auch nicht. Wer sie zur existentiellen Krise der Nation erklärt, verfolgt damit ein Interesse jenseits der Flüchtlingspolitik.
Ungeniert ignorieren vorgebliche law and order-Politiker nicht nur das internationale Recht, das beim Asyl, wie bei anderen Menschenrechten, keine Obergrenze kennt. Viele Rechtskonservative nutzen begeistert die Gelegenheit, zivilisatorische Regeln zu brechen, mit denen sie sich nur unwillig arrangiert haben. Völkisches Denken wird wieder offen propagiert, oft garniert mit Anwürfen gegen den Feminismus und die Gleichstellung von Homosexuellen. Rechtskonservative wollen ihre Vorstellung von Ordnung gegen die in den vergangenen Jahrzehnten erkämpften gesellschaftlichen Fortschritte durchsetzen.
In Ungarn ist ein solches Programm mehrheitsfähig, in anderen europäischen Ländern gefällt es einer wachsenden Minderheit. Die Sorge, Wählerstimmen zu verlieren, ist für opportunistische Politiker zweifellos ein Motiv, auf rechtspopulistische Propaganda einzuschwenken. Aber eigentlich kein ausreichendes, um das Schengen-System in Gefahr zu bringen und sogar den Bestand der EU zu riskieren. 2014 sagte Joseph Daul, damals Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei, dass »Ungarns Erneuerung ein Beispiel für den ganzen Kontinent werden sollte«. Das hat er wohl ernst gemeint. Die Sympathie für eine autoritäre Maßregelung, die im Konservatismus der Ära des Kalten Kriegs noch weit verbreitet war, schien nur noch eine marginale Erscheinung zu sein. Doch nun formiert sich im europäischen Konservatismus erneut ein rechtsnationalistischer Flügel.
Souverän ignorieren die Rechtsnationalisten die Warnungen der Unternehmerverbände, und wenn bei Konservativen die Ideologie über die Ökonomie triumphiert, ist das ein deutliches Zeichen für eine drohende Faschisierung. Dass die Gemäßigten in der Flüchtlingspolitik auf die Forderungen der Rechtsnationalisten eingehen, ist ein erster wichtiger Sieg. Die Flüchtlingspolitik aber ist nur ein Mittel zum Zweck der Schaffung eines Obrigkeitsstaats mit einer völkischen Nationalkultur.