Ken Freedmann erklärt den Erfolg des freien Radiosenders WFMU in New Jersey

»Politik wird irgendwann öde«

Beim freien Radiosender WFMU in New Jersey geben sich ständig wechselnde DJs die Klinke in die Hand. Welche Stücke sie spielen, wird auf keiner Programmkonferenz festgelegt. Musik ist die Botschaft, Nachrichten, Features und Kommentare gibt es nicht. Als Fans bekannten sich Lou Reed, Jim Jarmusch und Eric Bogosian. Ein Gespräch mit dem Redaktionsleiter Ken Freedman

Euer Radio hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Die Filmdokumentation »Sex and Broadcasting. A film about WFMU« erzählt davon und von den prekären Bedingungen des Projekts.
1958 gründete das Upsala-College mit WFMU eines der ersten Uniradios, ein ziemlich verschlafenes Projekt damals. 1968 änderte sich das, als ein Haufen Freaks und Hippies WFMU übernahm. Plötzlich waren wir der einflussreichste Underground-Sender der USA. Danny Fields, der die Stooges, MC5 und andere Musiker für Elektra Records unter Vertrag nahm und später Manager der Ramones wurde, war einer unser ersten DJs. Im August 1969 waren dann alle aus­gebrannt, die Auseinandersetzungen mit der Universitätsleitung waren einfach zu viel. Erst 1976, mit Punk und New Wave, wurde WFMU wieder zu einem erstzunehmenden Sender.
Seit wann bist du dabei?
Ich kam 1985 dazu, und als das College 1995 pleiteging, kauften wir die Lizenz für 150 000 Dollar, also fast nichts, zogen nach New Jersey und fingen an, Internetradio zu machen. Seitdem taumeln wir von einer finanziellen Krise zur nächsten – wobei man sagen muss, dass der Film in einer besonders schlimmen Zeit entstanden ist. Es ist nicht immer so bei WFMU.
Auf den ersten Blick ist WFMU kein politischer Sender. Anders als bei vielen Campus- oder Community-Radiosendern gibt es keine Nachrichten, politischen Berichte oder Magazine im Programm. Bis auf ein, zwei Comedy- oder Talkshows spielt ihr ausschließlich Musik.
Ich bin froh, dass bei WFMU nicht über Politik gesprochen wird. Das wird irgendwann ziemlich öde. Wer uns hört, kann dem ganzen Horror der USA – und Politik ist ein Teil davon – für eine Zeit entkommen. Damit ist eine Menge erreicht. Ob Musik politisch ist? Ich denke schon, zumindest dann, wenn man Musik spielt, die sonst keiner spielt und die zeigt, wie Kulturen sich gegenseitig beeinflussen, oder Musik, die durch die kommerzielle Definition nicht erfasst wird. Aber natürlich findet Politik immer auch im Selbstverständnis eines Radiosenders statt: in seiner Arbeitsweise, der ästhetischen Form und schließlich durch die Vernetzung mit vergleichbaren Projekten. Nicht zu vergessen durch die Finanzierung. Da wir von der Werbeindus­trie und der öffentlichen Hand unabhängig sein wollen, bestreiten wir unseren Haushalt nur durch das Geld unserer Hörer, aufgebessert durch Konzerte, Plattenbörsen und die eine oder andere Aktion.
Der Autor und Initiator vieler freier Radioprojekte, Lorenzo Milam, spricht in seinem Handbuch für freie Radios von drei Säulen, ohne die ein unabhängiger Sender nicht auskommt: Kommunikation, Geld und Reichweite.
Das war Anfang der siebziger Jahre, da war Radio noch gut. Aber konkret: Geld ist immer ein Problem. Zurzeit muss ich alle zwei Wochen neu überlegen, wie ich die Gehälter auszahle, die Rechnungen begleiche und so weiter. Die Übertragung ist durch das Internet kein Problem mehr, bis auf die Kosten natürlich. Womit wir zur Kommunikation kommen: Wir haben mit dem Internet angefangen, als es das Internet noch gar nicht gab. In den Achtzigern konnten Leute WFMU über Telefon hören oder abspielen. Und das Programmheft, das wir damals herausbrachten, war schon digitalisiert, als es 1992/93 mit dem Internet richtig losging.
Eine große Rolle spielt seither die Archivierung im Netz.
Das Problem vieler Radio- oder Mu­sik­archive ist die Verfügbarkeit des Materials. Und das gilt nicht nur für die öffentlich-rechtlichen Radiostationen in Deutschland. Die Library of Congress etwa hält ihren Besitz unter Verschluss und gibt ihn nicht einmal an die Bibliotheken weiter. Wir dagegen haben mit dem ersten Internetstream 1997 angefangen, unsere Sendungen zu archivieren und für jeden zugänglich zu machen. WFMU hat damit, das kann man glaube ich sagen, eines der größten öffentlichen Mu­sikarchive geschaffen. Der Aufwand ist natürlich groß. So haben wir ­annähernd 2 000 Verträge mit den Rechteinhaberinnen abgeschlossen.
Was ist die Idee des Free Music ­Archive (FMA)?
Als die Musikindustrie versuchte, gegen Online-Radiostationen in den USA vorzugehen, haben wir 2009 das FMA aufgebaut, für den Notfall. Wir wollten eine kuratierte Bibliothek mit guter Musik, die uns ermöglicht, das zu spielen, was wir spielen wollen. Bald wurde klar, dass die Musikindustrie uns in Ruhe lässt, und das Free Music Archive bekam eine andere Funktion. Heute dient sie Produzenten, Filmemachern, Radioprojekten, Podcastern und so weiter als stetig wachsende Fundgrube für nicht-kommerzielle Musik – mit derzeit mehr als 70 000 Stücken.
Gibt es für euer Programm eine ästhetische Kategorie? Ragtime, Metal, Neofolk, Punk, Free-Jazz, Krach, Neue Musik, Poptrash und so weiter, alles hat seinen Platz, ohne beliebig zu sein. Ist das Freeform?
Ich mag den Begriff Freeform nicht; er bedeutet nichts mehr, zumindest nicht für mich. Aber mir fällt auch kein besserer ein. Was die musikalische Ästhetik angeht, so könnte man durchaus von Eklektizismus, Humor, Postmoderne, Rock ’n’ Roll oder so sprechen, um die Bandbreite der Musik und unseren Umgang damit zu beschreiben – mehr aber auch nicht. Mir ist wichtig, dass wir das Radio als experimentelles Medium begreifen. We stay true to the form. Wir wollen einerseits all das bewahren und ausleben, was Radio als Live-Medium interessant macht: Spontaneität, Humor, Sprechkunst. Zugleich geben wir den DJs jede erdenkliche Freiheit zu spielen und zu machen, was sie wollen; und zuletzt schöpfen wir aus diesem Zusammenstoß unterschiedlichster Erfahrungen und Überzeugungen. Es ist eine Struktur, die wir über die Grenzen von WFMU hinaustragen wollen.
Wer an New Jersey denkt, denkt an Bruce Springsteen und die Sopranos, und dann erst – wenn überhaupt – an die Bongos, Feelies, Flesh­tones oder Yo la Tengo, die alle aus New Jersey kommen. Welche Rolle spielt die Stadt für euer Selbstverständnis als Community-Radio?
Für den Rest der USA ist New Jersey ein armpit, reichlich verschmutzt und vergiftet, wild und unberührt, korrupt und abstoßend. Alles in allem underground. Als Witzobjekt der Nation nimmt man sich hier nicht so wichtig und den Rest mit Humor. Das zeichnet unsere Station aus. Natürlich ist der Begriff der »Gemeinschaft« hier nicht unproblematisch, zumal jeder etwas anderes darunter versteht und »Community Radio« in den USA eine definierte Bedeutung hat. Aber eigentlich ist die Sache ganz einfach, zumindest was unsere Arbeitsweise und unser Selbstverständnis betrifft. Wenn ich an Gemeinschaft denke, dann denke ich an die Gemeinschaft unserer Hörer, an die Künstler, Musiker, Graphiker, Programmierer, DJs und die Verrückten, die bei WFMU aufeinandertreffen. Wir haben es mit einer Geheimgesellschaft zu tun, zu der jeder eingeladen ist. Jersey City ist dafür der richtige Ort.
Euer jüngstes Projekt »Audience Engine«, versucht diese Erfahrung in eine Open-Source-Software zu übersetzen. »A small hiccup for humanity«, wie es bei Lorenzo Milam heißt. Vielleicht liegt ja darin die Freiheit der Form und umgekehrt, zumindest im Internetzeitalter.
Werbefinanzierte Medien haben heutzutage keine Zukunft mehr, jedenfalls dann nicht, wenn sie journalistisch unabhängig sein wollen. Wir haben darum versucht, aus WFMU eine Software zu machen, Audience Engine, die Journalisten und anderen helfen soll, eine tragfähige Community aufzubauen. In diesem Fall hatten wir das Glück, vor Jahren eine Spende über eine halbe Millionen Dollar erhalten zu haben, die genau dafür gedacht war, in Ruhe und mit einem bezahlten Team aus Technikern und Programmierern unsere Idee umzusetzen. Es gibt einfach zu viele webbasierte Projekte, die sich schlecht entwickeln und gute Ansätze verschenken. Hier setzen wir an, das wollen wir in Zukunft verbessern. Der Vorteil von WFMU ist, das alles durch trial and error schon einmal durchlaufen zu haben. Wir wissen, was es heißt, ein Modell miteinander zu teilen, ideell und finanziell. Diese Erfahrung wollen wir weitergeben.