In der Sowjetunion fertigten Musikfans Bootlegs aus alten Röntgenbildern

Rhythmus in den Knochen

Um Bootlegs zu fertigen, griffen Musikfans in der Sowjetunion der fünfziger Jahre auf ausgefallene Materialien zurück. Der kurze Dokumentarfilm »X-Ray Audio. Bone Music« widmet sich den Protagonisten des Musikschwarzmarkts.

Als St. Petersburg noch Leningrad hieß, Joseph Stalin beziehungsweise nach ihm Nikita Chruschtschow über das Land herrschten und alle Lebensbereiche reglementiert waren, brauchte man sich um musikalische Vielfalt wenig zu sorgen – es war eh klar, was es zu hören gab. Aus dem Radio plärrten mal georgische Lieder und russische Volksweisen, dann lief Tschaikowski, der schließlich wieder von Volksweisen abgelöst wurde. Westliche Musik, all der Rock ’n’ Roll, Jazz und was sonst noch die Jugendlichen dazu verführte, Kinosessel aus der Verankerung zu reißen, stand unter Verdacht, die Verbreitung solcher Musik wurde aus ideologischen Gründen verhindert.
Wer mehr wollte, musste erfinderisch werden und begab sich in Gefahr. Die Musik Bill Haleys ins Land zu bekommen war eine Sache, die Vervielfältigung eine andere. »Zuerst ging es um Boogie Woogie, dann war es Rock ’n’ Roll und schließlich die Musik russischer Auswanderer«, sagt Rudy Fuchs, der im Leningrad der fünfziger Jahre zu denen gehörte, die Bootlegs fertigten und unter die Leute brachten. Die erforderliche Technik konnte Fuchs sich leisten. Er war häufig genug zum Blutspenden gegangen.
Vinyl war wie so vieles rar, Spuren wollte man nach Möglichkeit nicht übermäßig viele hinterlassen. Denn wer erwischt wurde, dem drohte nicht selten ein Aufenthalt hinter Gittern. Woher also den Rohstoff beziehen, auf dessen Oberfläche sich Rillen einritzen ließen? Man bediente sich beispielsweise im Krankenhaus. Zum verabredeten Zeitpunkt öffnete sich die Hintertür der Klinik und die Bootlegger nahmen das Material entgegen: alte Röntgenbilder.
Die Geschichte dieser Bootlegs, der »Bone Music«, und ihrer Macher erzählt eine kurze Dokumentation der Briten Stephen Coates und Paul Heartfield. Coates, Mitglied der Band Real Tuesday Weld, war vor einigen Jahren auf einem Flohmarkt in St. Petersburg über eine dieser obskuren Folien – zur einen Hälfte Tonträger, zur anderen Röntgenbild – gestolpert. Er nahm die Spur auf, machte die ehemaligen Protagonisten der Szene ausfindig, stöberte eine Reihe der Platten auf und dokumentiert seine Funde seitdem unter dem Titel »X-Ray Audio«.
Verkauft wurde die Bone Music beziehungsweise Roentgenizdat, wie sie im Russischen heißt, wie andere illegale Güter auch. Man traf sich mit seinem Dealer in düsteren Hauseingängen, an versteckten, aber unter Musikfans einschlägig bekannten Orten. »Einige Worte wurden gewechselt. Man sagte Rock ’n’ Roll, Jazz oder Tango, je nachdem, was man haben wollte. Der Dealer öffnete daraufhin den Mantel und zog die Platte hervor«, fasst Coates die Erzählungen der Bootlegger und Sammler zusammen. Dass die Platten so überaus flexibel waren, kam dieser Art des Warentauschs entgegen. Die Röntgenbilder ließen sich platzsparend zusammenrollen, sie waren nicht allzu schwer, so dass ein Verkäufer sich 50 davon unter den Arm klemmen und auf Tour gehen konnte.
Mit den Röntgenbildern wurde bis 1966 gehandelt, erinnert sich ein ehemaliger Sammler. Danach wurde die Knochenmusik auf dem Schwarzmarkt abgelöst durch die deutlich besser klingenden Magnetbänder. Bis dahin aber hatten einige Leute sehr viel auf sich genommen, um hören zu können, was sie hören wollten. Rudy Fuchs wurde erwischt und ging zwei Jahre in den Knast. Was er im Anschluss tat? »Ich fing einfach wieder an«, sagt er.
»X-Ray Audio. Bone Music« von Stephen Coates und Paul Heartfield ist auf Youtube zu finden
X-Rad Audio Project: www.x-rayaudio.com