Im Iran wurde gewählt

Satan im Herzen

Am Freitag vergangener Woche waren 55 Millionen Iranerinnen und Iraner aufgerufen, ihre Stimme zur Wahl von Vertretern im Parlament und im Expertenrat abzugeben. Die Frage ist freilich: Warum sollte man wählen?

Vor jeder Wahl erfolgt die Auswahl. Der aus regimetreuen Geistlichen bestehende Wächterrat überprüft, ob die zur Wahl antretenden Kandidatinnen und Kandidaten treu zur islamistischen Verfassung stehen und die darin festgelegte diktatorische Rolle des »Rechtsgelehrten«, also des religiösen Führers – derzeit Ayatollah Ali Khamenei – nicht in Frage stellen. Die Folge dieser Auswahl war dieses Mal verheerend: Von 3 000 Kandidaten der sogenannten Reformer wurden nur 30 zu den Wahlen zugelassen, also gerade mal ein Prozent. Nach Protesten wurde ein beachtlicher Teil der Streichungen zurückgenommen.
Nachdem die gewaltbereite Geistlichkeit um Ayatollah Khamenei in diesem Punkt einen Rückzieher gemacht hatte, versuchte sie gemeinsam mit einflussreichen Generälen der Pasdaran (Revolutionswächter), ihre Gegner im Wahlkampf zu diskreditieren. So warnte Khamenei die Liste, auf der auch Ayatollah Rafsanjani vertreten ist, sei eine Liste der Einflussnahme der Engländer, die es genauso wenig wie die US-Amerikaner verkraftet hätten, dass sie im Iran nicht wie zu Zeiten der Schahs durch »Berater« die Politik diktieren könnten. Da BBC Persian und Voice of America für Rafsanjanis Liste Werbung machten, sei klar, dass diese die Interessen Großbritanniens und der USA verträte.
Rafsanjani reagierte empört. Auf dieser Liste stünden verdiente Revolutionäre, gemeint sind islamistische Anführer der Revolution von 1979, und wenn man sich vor etwas fürchten müsse, dann vor der Einflussnahme des Satans in den Herzen derjenigen, die mit so unredlichen und unislamischen Methoden gegen Rivalen vorgingen. Die USA sind in der iranischen Politikfolklore seit der Revolution Sheytane Bozorg, der Große Satan, und Zusammenarbeit mit den USA ist dementsprechend Zusammenarbeit mit dem Satan. Der Vorwurf, Satan sitze im Herzen der machthabenden Geistlichen, zeigt deutlich, wie weit sich der Machtkampf verschärft hat.
Dieser Machtkampf wird unter anderem im Parlament ausgetragen, die wesentlichen Entscheidungen werden jedoch nicht dort getroffen. Denn was sind die Aufgaben eines Parlaments? Gesetze und den Staatshaushalt zu beschließen und die Regierungstätigkeit zu kontrollieren. Tatsächlicher Machthaber ist jedoch der religiöse Führer, der dem Parlament nicht rechenschaftspflichtig ist. Was die Gesetze angeht: Egal, was das Parlament beschließt, der Wächterrat – also die Geistlichkeit – hat das letzte Wort und kann sämtliche Beschlüsse aufheben, indem er sie als »unislamisch« einstuft. Und da die herrschenden Ayatollahs ihre Macht im Wesentlichen auf die Gewalt der Waffen in der Hand der Pasdaran und der paramilitärischen Bassiji stützen, werden sie auch sämtliche Beschlüsse aufheben, die deren Interessen zuwiderlaufen.
Was das Budget angeht: Ein beachtlicher Teil der Erdölförderung, der Infrastruktur und anderer wirtschaftlicher Bereiche im Iran ist in der Hand von Firmen, die von den Pasdaran oder führenden Geistlichen kontrolliert werden. Die Einnahmen fließen an diese Stützen des Regimes, zu deren Bereicherung wie auch zu politischer Einflussnahme. Dem Staatshaushalt werden so gewaltige Summen entzogen, auch an Steuereinnahmen. Die wichtigsten Großunternehmen im Iran sind entweder religiöse Stiftungen, die keine Steuern zahlen, oder in der Hand der Pasdaran, die ebenfalls keine Steuern zahlen.
Der Basar, die Oligarchie der Großhändler, hat sich schon unter Präsident Mahmoud Ahmadinejad erfolgreich dagegen gewehrt, stärker besteuert zu werden. Nur ein Bruchteil der Einnahmen wird zur Versteuerung deklariert. Auch die Steuern auf den Import von Waren werden in großem Ausmaß hinterzogen. Sogar Ahmadinejad, der aus dem Kreis der Pasdaran stammt, hat diese als »Schmuggelbrüder« bezeichnet. Wichtige Häfen und Flughäfen im Iran dienen den Import von Schmuggelware, und das unter der Regie der Pasdaran. Die finanzielle Ohnmacht betrifft nicht nur das Parlament, sondern auch die offizielle Regierung, die derzeit von Präsident Hassan Rohani geführt wird. Außer durch Schuldenaufnahme hat die Regierung keinen Zugriff auf neue Geldquellen.
Das politische System im Iran steckt in einer Sackgasse. Es gibt in der Geistlichkeit, namentlich unter den »Reformern«, genügend Menschen, die sehen, dass die Regierung wie das Parlament unter den herrschenden Umständen nichts tun können, um die grassierende Arbeitslosigkeit und das Verarmen der Mittelschicht zu bekämpfen. Denn jegliche Veränderung tangiert die Interessen der Waffenträger, der Pasdaran und Bassiji. Lässt man sie weitermachen, verarmt die Bevölkerung weiter. Die meisten Iraner wählten in der Hoffnung, nach dem Ende der Sanktionen werde sich ihre wirtschaftliche Lage verbessern. Deshalb wurden den ersten Ergebnissen zufolge viele »Reformer« gewählt. Doch über Verteilung der zusätzlichen Profite wird nicht im Parlament entschieden. Irgendwann wird das ganze System gestürzt werden wie seinerzeit das Schah-Regime. Das wissen auch die sogenannten Hardliner, die mit den Pasdaran verbündet sind. Aber sie wissen auch, dass jede Reform ihre eigene Macht und ihren eigenen Wohlstand gefährdet und sie schnell hinter Gittern landen können für alles, was sie bislang verbrochen haben. Diese Fraktion fährt lieber im Mercedes mit Vollgas ans Ende der Sackgasse als umzudrehen. Die »Reformer« benutzen zwar die Unzufriedenheit, um an Ämter zu gelangen, aber sie wollen das islamistische System erhalten, stecken also ebenso in der Sackgasse. Sie werden sich hüten, die Anführer einer Revolution zu sein, die die Pasdaran und Bassijis entmachtet, weil dann auch ihre eigene Zukunft gefährdet wäre.
Es gibt wenige Lichtblicke, dazu gehören die neuen Medien. Denn während Radio, Fernsehen und Zeitungen fest von den Hardlinern kontrolliert werden – Zeitungen können schnell geschlossen und die Redakteure verhaftet werden –, ist es mit dem Internet schwieriger. In kritischen Zeiten wird zwar die Übertragungsgeschwindigkeit verlangsamt und die Mobilfunknetze brechen zusammen, aber das ändert nichts daran, dass viele Iranerinnen und Iraner über Facebook, Viber, Telegram und andere Plattformen an den weltweiten Informationsfluss angeschlossen sind und diese Kanäle auch nutzen, um Informationen aus dem Iran zu verbreiten. Allein bei Telegram sollen 20 Millionen Iraner Mitglied sein. Und so dienen Wahlen zwar nicht dazu, die Institutionen zu ändern, aber sie sorgen dafür, dass die Bevölkerung über die Dinge spricht, die ihr wichtig sind, und lernt, ihre Forderungen zu formulieren. Für den Tag, von dem keiner weiß, wann er kommen wird.

Experten im Wartestand
Mitglied im iranischen Expertenrat zu sein, ist ein geruhsamer Job, wie geschaffen für die 88 Geistlichen, die überwiegend das Rentenalter bereits erreicht haben. Das Gremium tagt nur zweimal pro Jahr. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Amtsführung des religiösen Führers zu überwachen, sogar absetzen darf es ihn. Doch waren die Geistlichen nie so respektlos, Khamenei oder dessen Vorgänger Khomeini auch nur zu kritisieren. Aber es obliegt dem Expertenrat, den religiösen Führer zu wählen. Das könnte bald wieder notwendig sein, denn der Gesundheitszustand Ali Khameneis gilt als sehr schlecht. Ist ein Nachfolger bestimmt, kann dieser sehr weitgehend die Politik bestimmen, denn faktisch ist der Iran eine Wahlmonarchie, deren Herrscher auf mächtige Interessengruppen, nicht aber auf Parlament und Gesetz Rücksicht nehmen muss.
Um die Nachfolge Khameneis sind daher harte Machtkämpfe zu erwarten. Zum Entsetzen der Hardliner wurden nun mehrere ihrer prominenten Ayatollahs, unter anderem Mohammed Yazdi, bislang der Vorsitzende des Expertenrats, und der Apokalyptiker Taqi Mesbah-Yazdi, nicht wieder gewählt – viele der in Teheran gewählten neuen Mitglieder gelten als »Reformer«. Fraglich ist jedoch, ob der Expertenrat eine kontroverse Mehrheitsentscheidung treffen wird. Offener Streit würde allen Fraktionen des Regimes und dessen religiöser Legitimation schaden. Wahrscheinlicher ist daher, dass, wie bereits bei der »Wahl« Khameneis 1989, ein Kompromisskandidat gesucht wird.