Cowboys auf Horrortrip. Die Comicserie »Manifest Destiny«

Die Zombies im Schatten der Entdeckungen

Die Comicserie »Manifest Destiny« schickt Cowboys auf einen Horrortrip und gibt ein erschreckend-schönes Bespiel für Mash-up-Literatur. Von

Die USA folgen einem göttlichen Auftrag zur Expansion. Was nicht wenige heute noch glauben, war im 19. Jahrhundert eine Doktrin, die sich ursprünglich auf die Inbesitznahme des gesamten nordamerikanischen Kontinents – nun ja – beschränkte. Von dieser sogenannten »Manifest Destiny«, der »offensichtlichen Bestimmung«, erzählt eine gleichnamige Pulp-Comic-Reihe, deren erster herrlich überzogener Teil nun auf Deutsch erscheint.
Grundidee der Handlung ist, dass hinter der berühmten Expedition von Captain Meriwether Lewis und Second LieutenantWilliam Clark im Jahr 1804 eine Geheimmission steckte. Statt lediglich von Missouri aus einen Weg zur Westküste zu finden, sollen die Entdecker nämlich die Terra incognita von bislang unbekanntem lebensgefährlichem Gekreuch und Gefleuch bereinigen. Denn in der Wildnis ­toben Killing Machines. Tatsächlich tut sich vor der Crew aus drei Dutzend Männern schon wenige Tage nach ihrem Aufbruch ein gewalti­ges Bestiarium auf. Klingen schwingende Vierbeiner verbreiten Angst und Schrecken, eine Seuche verwandelt Menschen in Pflanzenzombies.
Was die Mystik-Horror-Abwandlung soll? Um historische Wahrheit sind die Autoren des Comics offentlichtlich nicht bemüht: Sie wollen unterhalten. »Manifest Destiny« ist der erste Comic, der Chris Dingess’ Feder entsprungen ist. Für gewöhnlich ist er als Produzent und Autor von Fernsehserien wie »Eastwick« und »Being Human« tätig. Das mag erklären, warum das Geschehen um diese haarsträubende Expedition derart turbulent vorangetrieben wird. Trotz der vielen Figuren behält man den Überblick. Während Captain Lewis die neue Welt eher neugierig forschend ­behandelt, durchmisst sein Begleiter Clark die grüne Hölle forsch mit der Machete. Zusätzlich hat der Zeichner Matthew Roberts, dem ­diese Serie zum kommerziellen Durchbruch verhelfen dürfte, jeder Figur ein markantes Äußeres ver­liehen, so dass man ihre Visagen trotz Uniformallerlei auch in den wildesten Action-Sequenzen auseinanderhalten kann.
Was wirklich geschah: Thomas Jefferson, damals Präsident der USA, schickte die Armeeoffiziere Lewis und Clark persönlich auf die Reise. Nachdem die USA 1803 das große Louisiana-Territorium von Frankreich erworben hatten, wollte er das US-Staatsgebiet bis zur Westküste ausdehnen. Deshalb sollte die Expedition einen schiffbaren Weg zum Pazifik finden und nebenbei die Natur und indigene Einwohner erforschen.
Ihr Hauptziel konnten Lewis und Clark auf ihrer zweieinhalbjährigen Entdeckungsreise also nicht erreichen. Wie sie erfahren sollten, existiert kein lückenloser Wasserweg vom Missouri bis zur Westküste. Dafür kamen sie in Kontakt mit rund 70 indigenen Stämmen und beschrieben mehr als 200 unbekannte Tier- und Pflanzenarten.
Der titelgebenden Flora und Fauna begegnet man im ersten der sechs Bände umfassenden »Manifest Des­tiny«-Reihe in ihren strahlendsten Farben. Die Seiten sind übersät mit wundervoll gestalteten Kreaturen, die man aber lieber aus der Entfernung betrachtet. Hier wachsen Totenkopfblumen und fleischfressende Riesenpflanzen. Selbst den putzigen Eichhörnchen steht der Sinn nach Menschengedärm. Und die etwas akademische Frage, ob es sich bei der muskulösen Erscheinung einer der büffelähnlichen Giganten nun um einen Minotauros, Zentaur oder etwas anderes handelt, stellt sich ­zumindest beim Erstkontakt nicht.
Mit ihrem Vorgehen, eine historische Situation zu verdrehen, stehen die Autoren von »Manifest Destiny« nicht allein. In Comics wurde die Ereignisgeschichte bereits von anderen mit absurder Fiktion vermischt, man denke nur an die Abenteuer von »Hellboy«, der sich während des Zweiten Weltkriegs mit Rasputin und SS-Mystikern herumschlägt. Aber »Manifest Destiny« ist ein besonders treffendes Beispiel des gegenwärtigen Trends, Fiktionalisierungen der US-Geschichte mit Horrordekor zu grundieren und reichlich Blut fließen zu lassen. Mash-up-Novels, also Collagenromane, werden diese Kombinationen aus den Stoffen literarischer Klassiker und Pulp-Elementen genannt. Der Begriff wurde beim Erscheinen des Romans »Pride and Prejudice and Zombies« (»Stolz, Vorurteil und Zombies«) 2009 erstmals verwendet. Seth Grahame-Smith, wie Dingess eigentlich Fernsehserienautor, schrieb in Jane Austens Entwicklungsroman »Stolz und Vorurteil« Versatzstücke über Untote hinein. Der berühmte erste Satz des Buches lautet: »It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune, must be in want of a wife.« In Grahame-Smiths Fassung wird daraus: »It is a truth universally acknowledged that a zombie in possession of brains must be in want of more brains.«
Einige Jahre zuvor hatte Nick Mamatas in »Move Under Ground« Jack Kerouacs Beatliteratur mit dem außerweltlichen Horror H. P. Lovecrafts gekreuzt. Die größte Popularität erreichte das Genre bisher mit der Verfilmung von Grahame-Smiths Roman »Abraham Lincoln Vampirjäger«, der ein Jahr nach »Pride and Prejudice and Zombies« erschien. Darin wird die Biographie des US-Prä­sidenten um sein Doppelleben als Schlächter der Dracula-Jünger angereichert. Ihr Blutdurst sei der wahre Hintergrund der Sklaverei und deshalb Lincoln ein erbitterter Gegner des Menschenhandels.
Diese neuen Mischformen riefen selbstverständlich die Literaturkritik auf den Plan. Auf dem Buch-Blog der New York Times beklagte Jennifer Schuessler, auch unter Verwendung des Begriffs Mash-up, dass 85 Prozent Austen mit weitschweifigen Anspielungen auf »geknackte Schädel und Ninja-Schwertfechtereien« angereichert worden seien. Schuessler kritisierte zwar das Ausschlachten lizenzfrei gewordener Klassiker als neueste Entwicklung der Kulturindustrie. Im Gegensatz zu gegenwärtigen Bestsellern seien diese Bücher aber immerhin lesbar.
Ob intendiert oder nicht: »Manifest Destiny« legt eine subversive Spur. Das macht bereits der Bezug auf die schicksalhafte, wenngleich nie unumstrittene Doktrin deutlich. Denn »Manifest Destiny« drückte im 19. Jahrhundert ein Überlegenheitsgefühl aus, das sich aus der Euphorie von Unabhängigkeitskriegs- und Fortschrittsoptimismus speiste und sich mit Religiosität und ökonomischem Kalkül vermengte. Davon haben die Autoren kaum etwas übriggelassen, die Abenteurer in ihrer Geschichte sind auf der Flucht, und sie sterben. Hilfe kommt ausgerechnet von einer »Wilden« namens Sacagawea. Ihre Existenz ist belegt und ­eines der wenigen historischen Details, auf die Chris Dingess offensichtlich nicht verzichten wollte. Hier wird sie zur Anführerin stilisiert, ­einer Dutzende Feinde metzelnden Heldin. In ihrer Darstellung als Ikone spiegelt sich die Columbia-Figur, die damals als graphisches Symbol des »Manifest Destiny« herhielt: Strahlend geht die Frau voran, um Licht in die Dunkelheit, Zivilisation in die Wildnis zu bringen. Dieses Bild konterkariert Sacagawea auf clevere Weise.
Die Autoren von »Manifest Destiny« machen die Expedition von Lewis und Clark, die auch unter dem Namen »Corps of Discovery Expedition« bekannt ist, zu Corpses of Discovery: Es geht um die Leichen im Schatten der Entdeckungen. Die Truppe scheint dem Untergang kaum entgehen zu können, wenn auf den letzten Seiten nicht doch noch ein Hoffnungsfünkchen aufglimmen würde. Wird die Geschichte einen glücklichen Ausgang nehmen? Man kann es ahnen, aber mit diesem Cliffhanger endet der erste Band der Serie. Mit viel Gerede hält sich der Comic nicht auf, es zählt die blutige Tat. Zu dieser sind die Cowboys auf dem Horrortrip allzeit bereit – ist halt unabwendbares Schicksal.
Chris Dingess, Matthew Roberts, Owen Gieni: Manifest Destiny 1. Flora und Fauna. Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Langhagen. Ludwigsburg 2016, Verlag Cross Kult, 118 Seiten, 20 Euro