Auszug aus »Christa Winsloe. Autobiographie und andere Feuilletons«

Aus Klettverschluss eine Schleife binden

Ausprobiert, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 20: Dart.

Hinter dem Fischmarkt, an der Großen Elbstraße, steht ein rotes Backsteinhaus. Es hat vier Stockwerke, und neben dem Eingang hängt ein kupferrostgrüner Christus am Kreuz. Auf der anderen Straßenseite, wo man jetzt fancy Häuser und Gebäude an den Fluss gebaut hat, sah man damals, Anfang der nuller Jahre, noch die Elbe fließen; und bei Hochwasser floss sie auch durch den Keller. Das war nicht schlimm, das kannten alle Bewohner des Hauses schon. Es ist der Keller der Seemannsmission Altona.
In diesem Keller habe ich Dart-Spielen gelernt. Ich war Zivildienstleistender, kam von einem kleinen Kaff am Fuße der Alpen und weil mein Träger keine passende Wohnung für mich fand, quartierte er mich für einige Monate dort im vierten Stock ein. Es war ein totaler Clash: vom beschaulichen Allgäu an den größten Seehafen Deutschlands. Lange Zeit dachte ich, es gäbe so etwas wie Normalität, und das wäre, was sich in Hamburger Hafenkaschemmen Abend für Abend abspielt, wo man aus leeren Fläschchen »Kleiner Feigling« Lampenschirme baut.
Die Seemannsmission war damals so strukturiert, dass in den ersten beiden Stockwerken die aktiven, im vierten allerdings die aus dem Dienst ausgeschiedenen Seemänner untergebracht wurden, die sich kein Geld für ein eigenes Zuhause zusammengespart hatten. Und dass sie das nicht geschafft hatten, auch dass sie nicht mehr arbeiten konnten, lag vor allem am Alkohol.
Als ich dort unterkam, teilte ich mir den Flur im Vierten mit drei Leuten: Klaas, den man nie sah und nie hörte, der wie ein Geist dort hauste. Herr Baader, ein ehemaliger Ingenieur, den seine Vorliebe für heiratswillige ostasiatische Frauen ruiniert hatte; dreimal hatte er von seinen Fahrten eine (erheblich) jüngere Frau nach Hause gebracht, geehelicht und geschwängert, drei Mal waren die Frauen während einer seiner monatelangen Abwesenheiten mit seinen Ersparnissen zurück zu ihrer Familie abgehauen und hatten ihm vier- bis fünfstellige Telefonrechnungen hinterlassen. Er zahlte Alimente für vier Kinder und der Rest ging für Schnaps drauf, vielleicht war’s auch andersrum. Der dritte war Victor, ein mittelalter Mann aus St. Petersburg, der den ganzen Tag davon sprach, dass er nie sein Fischerboot hätte verlassen dürfen. Er sei einst zum Boxen nach Hamburg gekommen, sagte er, und ich war jung genug, um das zu glauben. Am dritten Abend versuchte er, um mir seine Kraft zu demonstrieren, ein paar Liegestützen vorzuführen; bereits die erste überforderte ihn derart, dass er – kaum hatte er die Nase wenige Zentimeter über den Boden gehoben – erschöpft zusammenbrach und einige Zeit schwer schnaufend einfach liegen blieb. Als ich ihm aufhelfen wollte, verscheuchte er mich mit einer unwilligen Handbewegung.
Im Keller der Seemannsmission trafen sich die Seemänner, um sich für die Reeperbahn schick zu machen, also im Grunde zwischen vier und sieben Bier in sich reinzukippen, dann drei Schnäpse, und los geht das. Man konnte sich am Tresen die Heuer auszahlen lassen, und das war aus mehreren Gründen ungünstig: Die Mehrzahl der Seemänner stammten aus mir noch immer nicht ganz begreiflichen Gründen von Kiribati oder Tuvalu, zwei kleinen Inselstaaten mitten im Pazifik, mit zusammen ungefähr 110 000 Einwohner, und alle Männer dort scheinen zur See zu fahren. Sie vertrugen Alkohol sehr schlecht, ließen sich davon aber kaum beeindrucken und verlangten deswegen gerne bis zu 1 000 Euro ihrer Heuer. Fast immer kamen sie am nächsten Mittag ohne einen Cent in den Taschen ihrer zerrissenen Hosen zurück.
Die Zeit bis dahin verbrachten wir am Tresen, und – sobald unser rudimentäres Englisch ausgeschöpft war und uns nichts mehr blieb, außer uns anzugrinsen – am Dart-Automaten. Wir spielten 301, wir brauchten lange für ein Match, keiner von uns konnte das.
Außer Victor. Im Hintergrund saß Herr Baader über seinem sechsten Wodka-Cola, und vorne stand Viktor, die Beine kaum mehr auf dem Boden, den Oberkörper zentrifugal um die Idealstellung herumwuchtend, und warf eine Triple 20 nach der anderen. Seit Jahren brachte er keinen geraden Satz mehr heraus, aber seine Pfeile flogen wie an der Schnur gezogen quer durch den Raum, und – dading! – nur noch 40 Punkte. Gleich würden wir ihm noch mal ein Bier ausgeben müssen (der Sieger gewann immer ein Bier).
Ich verfolge den Sport sehr selten im Fernsehen, ich lese auch kaum darüber. Wenn man es nicht selber spielt, ist es verdammt öde. In einem Interview sagte der Oberzeremonienmeister Deutschlands, Gordon Shumway, einmal, Dart sei großartig, wie »vier Stunden Elfmeterschießen«. Aber wer bitte schaut sich vier Stunden Elfmeterschießen an? Noch nicht einmal die Leute in der Halle: Man sieht bei den Aufzeichnungen der Masters das Publikum eigentlich nur Plakate schwenken, johlen und Bier trinken. Immerhin scheinen das vernünftige Leute zu sein, die zu Dart-Masters gehen.
Es fehlt eben auch der Thrill, die Widersinnigkeit, die jedem Kneipenspiel anhaftet, wenn man es selbst spielt: Man versucht, den Bewegungsablauf zu vervollkommnen, und trinkt dabei Nervengift. Als würde man mit Klettverschlüssen an den Schuhen eine hübsche Schleife binden wollen.
Ich habe ein einziges Mal ein Dartspiel gewonnen, gegen vier bereits sehr angetrunkene Kiribati. Victor saß daneben und zitterte, er machte gerade seinen dritten kalten Entzug seit meinem Einzug durch. Herr Baader saß neben ihm und erklärte die Abläufe eines deutschen Inkassoverfahrens, während Victor der Schweiß von der Nase tropfte. Er zitterte so sehr, dass er weder Glas noch Flasche halten konnte, ohne alles zu verschütten. Seine Cola trank er per Strohhalm. Hin und wieder begann sein Kopf zu vibrieren, als bekäme er einen epileptischen Anfall. Ich sah häufiger besorgt zu ihm rüber, aber er winkte immer flatternd ab. »Mach du mal, Kleiner«, sagte er und versuchte, konzentriert das Spiel zu verfolgen. Als ich die Double 3 traf beim finalen Wurf, sprang er auf, um mich zu beglückwünschen, aber seine Beine trugen ihn nicht, und er legte sich der Länge nach hin. Erst begannen die Kiribati zu kichern, dann kam ein heiseres Glucksen aus Herrn Baader hervor, bald sahen auch die übrigen Gäste und der Barkeeper herüber und fielen ins allgemeine Gelächter mit ein. Victor, der sein Gewicht auch mit den Armen nicht tragen konnte, rutschte auf dem Boden hin und her und wenn sich doch einer herunterbeugte, um ihm hoch zu helfen, dann quakte er nur wütend. Nach langen, langen fünf Minuten erreichte er bäuchlings die Treppe, wo es ihm gelang, sich aufzusetzen.
Vier Tage später wies er sich in die Geschlossene ein, um sich beim Entzug begleiten zu lassen. Mir wurde zwei Wochen darauf eine Wohnung am Goldbekkanal zugeteilt, ich kam nur noch sporadisch zu Besuch. Ein, zwei Mal stand ich noch an der Linie und warf großflächig Pfeile Richtung Automat, aber im Grunde habe ich das Darten aufgegeben.
Ich hoffe sehr, dass es Victor ähnlich geht. Bei meinem letzten Besuch sagte man mir, er sei wohl besoffen in die Elbe gefallen und ertrunken, aber da war ich schon nicht mehr jung genug, um alles zu glauben, was man mir so erzählt.