Am 11. März jährt sich die Atomkatastrophe von Fukushima zum fünften Mal

China-Syndrom in Fukushima

Die japanische Regierung übt sich fünf Jahre nach der nuklearen Katastrophe in Fukushima vor allem in Beschwichtigung. Der damalige Ministerpräsident hingegen ist inzwischen ein Atomkraftgegner.

Fünf Jahre nach dem Erdbeben in der japanischen Region Tohoku, das die Tsunami-Katastrophe und die Zerstörung des Atomkraftwerks Fukushima auslöste, überrascht ein japanisches Forschungsinstitut mit der Behauptung, die Meeresfische in der Region seien »kaum noch radioaktiv belastet«. Die absurde und offensichtlich tendenziöse Meldung entspricht der Politik der japanischen Regierung. Ministerpräsident Shinzo Abe verkündet die wohltuende Botschaft, dass die Nuklearkatastrophe im Großen und Ganzen bewältigt sei. Deshalb meint er auch, die Atomkraftwerke des Landes wieder in Betrieb nehmen zu können. So gingen im vergangenen halben Jahr trotz wütender Proteste je zwei Reaktoren in Sendai und Takahama ans Netz. Weitere 39 Meiler sollen demnächst hochgefahren werden. Sieben Reaktoren wurden vor einem Jahr endgültig stillgelegt. Vier Reaktoren von Fukushima Daiichi sind zerstört, aber die Evakuierung in der Zone 20 Kilometer rund um das Werk will Abe bis 2017 aufheben.
Die Regierung hat Vorsorge getroffen, damit ihrer Politik nichts im Wege steht. Ende 2013 ließ sie ein Gesetz gegen Whistleblower verabschieden. Die Weitergabe und Veröffentlichung von »Staatsgeheimnissen« wird mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft. Es handelt sich um eine Lex Fukushima. Wenn beispielsweise ein anderes Forschungsinstitut zu einer gegenteiligen Beurteilung der Unbedenklichkeit von Fischen vor der Ostküste Japans gekommen ist, so wird es sich dreimal überlegen, ob und wie es diese Erkenntnisse publiziert. Die Exekutive möchte sich die Deutungshoheit über die Nuklearkatastrophe sichern. Vor fünf Jahren war es genauso.
Damals trat der legendäre Regierungssprecher Yukio Edano täglich vor die in- und ausländische Presse, um sich immer wieder bei der japanischen Bevölkerung zu entschuldigen. Für die Lage in Fukushima fand er täglich neue Umschreibungen, aber er war peinlich bemüht, das Wort Kernschmelze zu vermeiden, und als es sich nicht mehr vermeiden ließ, gestand er lediglich die Möglichkeit und Gefahr einer solchen ein. Nachdem die Gefahr von US-Experten, die Japan zu Hilfe gerufen hatte, längst als Realität beschrieben worden war, benutzte der Entschuldigungsminister die Formulierung einer »teilweisen Beschädigung« der Reaktorkerne, schließlich war es dann doch eine »teilweise« Kernschmelze. Edano verkörperte geradezu klassisch die Informationspolitik, die zur Atomenergie gehört wie das Eiweiß zum Dotter: etwas erst zugeben, wenn es sich nicht mehr leugnen lässt, und dann auch nur die Hälfte davon bestätigen. Bis zum Mai 2011 brauchte die japanische Atomaufsicht, um drei Kernschmelzen in den Reaktoren 1 bis 3 von Fukushima offiziell bekanntzugeben. Reaktor 4 war zum Zeitpunkt des Unglücks außer Betrieb, wurde aber von einem Brand zerstört.
Erwiesenermaßen schmelzen die Kernbrennstäbe eines Siedewasserreaktors nach dem vollständigen Ausfall aller Kühlsysteme innerhalb weniger Stunden durch. Bereits nach einem halben Tag haben sie sich auf dem Boden des Reaktorgefäßes in sogenanntes Corium verwandelt, eine extrem radioaktive Lava aus Metallen, Uran und Spaltstoffen mit einem Plutoniumanteil von rund einem Prozent. Dann gibt es auch keine Steuerstäbe mehr, sie haben sich in der Schmelze aufgelöst; Kernspaltungen können wieder einsetzen. Die Schnellabschaltung, deren Gelingen in Fukushima – im Unterschied zu Tschernobyl – alle Welt beruhigt zur Kenntnis genommen hatte, war schnell unwirksam. Die Regierung brauchte hundert Mal so lang wie das Geschehen selbst, um es öffentlich in zutreffender Weise darzustellen. Doch auch die britische Regierung brauchte 30 Jahre, um bekanntzugeben, was in der Atomanlage Sellafield (damals Windscale) 1957 wirklich geschehen war.
Umso größeres Interesse gilt daher dem Buch von Naoto Kan, dem japanischen Ministerpräsidenten von Juni 2010 bis September 2011. Es trägt den Titel »Als Premierminister während der Fukushima-Krise« (Iudicium Verlag, München, 2015), und wurde vom Autor auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Das Bändchen ist kompakt genug, um auch von Politikern und leitenden Angestellten gelesen zu werden. Auf 150 Seiten erhält man seltene Einblicke in das, was einem passieren kann, wenn man das Pech hat während eines Atomunfalls einen verantwortlichen Posten zu bekleiden. Kan zog Konsequenzen aus den Ereignissen und überdachte seine ursprüngliche Begeisterung für Atomenergie. Heute sieht er seine Mission darin, für den Atomausstieg und erneuerbare Energien zu kämpfen.
Kan berichtet, dass er in den Tagen nach dem 11. März 2011 vor der Entscheidung stand, eine Evakuierung des Großraums Tokio mit 50 Millionen Einwohnern vorbereiten zu lassen. Der ehemalige Ministerpräsident lenkt die Aufmerksamkeit besonders auf den Reaktor 4. Dieser war zwar nicht in Betrieb, aber seine Brennelemente lagen zusammen mit älteren Beständen im Abklingbecken. Damit befanden sich 228 Tonnen bestrahlter Brennstoff außerhalb des Containments. Aufgrund des Stromausfalls blieben sie neun Tage lang ungekühlt. Wenn das Wasser im Becken verdampft wäre, hätten sie explodieren können. Dann hätte sich eine riesige Strahlungsmenge ungebremst ausgebreitet. Die US-Atomaufsicht NRC befürchtete bis zu 200 000 Tote und das Szenario einer Zweiteilung Japans mit einem unpassierbaren 50 Kilometer breiten Streifen quer durch das Land.
Die Abklingbecken bilden also eine bisher unterschätzte Gefahrenquelle. Fukushima legt einen fundamentalen Planungsfehler des Siedewasserreaktors bloß. Weltweit müssten über 80 Reaktoren dieses Typs ausrangiert werden. In Deutschland geht es um das AKW Gundremmingen, konkret dessen Blöcke B und C. Auf der Website des Betreibers findet man den schematischen Aufbau der Anlage und Bilder aus dem Gebäudeinneren. Sie zeigen die Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente mit der gleichen Lokalisierung und genauso ungeschützt wie in Fukushima. Die gemäß der Energiewende geplanten Stilllegungstermine für Gundremmingen, 2017 und 2021, sind demnach unbegreiflich spät.
Glückliche Fügungen, meint Kan, hätten sein Land vor der ganz großen Katastrophe bewahrt. Und so lautet der Tenor des Buchs: Es hätte noch viel schlimmer kommen können. Aber wie schlimm ist es tatsächlich gekommen und welche Gefahren gehen heute noch von Fukushima aus? Ist das Corium, jener glühende Brei, der auf den Boden des Reaktordruckgefäßes heruntergetropft ist (melt down), in den vergangenen fünf Jahren dort liegengeblieben? Vor einem Jahr wurde Reaktor 1 mit einer Art Röntgentechnik durchleuchtet. Das Resultat zeigt einen leeren Reaktordruckbehälter mit durchlöchertem Boden. Da ist kein Nuklearmaterial mehr auszumachen. Das Corium hat die erste Barriere also durchbrochen und sich einen Weg bis an den Boden des Reaktorsicherheitsbehälters gebahnt (erstes melt through). Als nächstes fraß sich die radioaktive Lava offenbar in den meterdicken Betonsockel unter dem Sicherheitsbehälter. Diese Annahme ist zwingend, weil sich die Nuklidzusammensetzung bei Strahlungsmessungen außerhalb der Anlage deutlich von dem Spektrum unterschied, wie es nach Kernspaltungen typischerweise auftritt. Die dabei nachgewiesenen unerwarteten Isotope erklären fachkundige US-Blogger durch Reaktionen des Corium mit Beton.
Die entscheidende Frage lautet demnach, wie weit das Corium in den Betonsockel eindringen konnte und ob beziehungsweise wann es diese letzte Barriere durchquert hat. Wie weit geht das zweite melt through? Das Grundwasser in der Umgebung ist radioaktiv verseucht. Das wird von den japanischen Behörden nicht bestritten. Ihre Erklärung lautet, unter dem Kraftwerk gebe es eine Grundwasserströmung in Richtung des Meeres. Dieses Grundwasser habe sich mit einem Teil der zigtausend Tonnen Wasser vermischt, die zur Kühlung monatelang in die Reaktorruinen hineingepumpt wurden, durch Lecks in den Containments wieder austraten und nicht vollständig aufgefangen, in Tanks gelagert und dekontaminiert werden konnten.
Die weniger umständliche Erklärung besagt, dass etwas begonnen hat, was in vielen GAU-Szenarien als »China-Syndrom« beschrieben wird. Das Corium ist bis in den Boden unter den Reaktoren gelangt, vielleicht nicht einmal besonders tief. Dort wurde es von dem Neutronen schluckenden Bor, das die Katastrophenhelfer ins Kühlwasser mischten, nicht mehr erreicht. Kernspaltungen in Form unkontrollierter Kettenreaktionen setzten wieder ein, produzierten neue Energie und bewirkten immer wieder plötzliche Strahlungsspitzen. Noch Monate und Jahre nach dem 11. März 2011 traten kurzlebige Spaltprodukte wie Jod 131 auf, obwohl dieses Isotop nach ein paar Wochen verschwunden sein sollte. Fukushima wäre, folgt man den offiziellen japanischen Darstellungen, eine Widerlegung aller bisherigen Physik. Daher kann nur eines der beiden Gesetze gelten: Shinzo Abes Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen oder das Gesetz des radioaktiven Zerfalls.
Es sieht so aus, als sei die Energie der Kernschmelze irgendwann erlahmt und das melt through zum Stoppen gekommen. In den nächsten Jahrhunderten werden geologische Prozesse das strahlende Erbe in den Pazifik spülen. Das ist die Hoffnung der gegenwärtigen japanischen Regierung.