Was der Erfolg der AfD mit der deutschen Geschichte zu tun hat

Die Mitte, ganz rechts

Der Erfolg der AfD und der Wunsch, rechtsextreme Positionen zu artikulieren, ohne Nazi genannt zu werden.

Seit Jahrzehnten zeigen empirische Untersuchungen, dass es in Deutschland einen konstanten Anteil von etwa einem Fünftel Antisemiten und einem Viertel Rassisten in der Gesamtbevölkerung gibt. Hier und da ändern sich die Werte kurzfristig, der antiaufklärerische Bodensatz ist aber stabil. Nicht jeder davon ist ein organisierter Neonazi. Manche dieser Menschen sind zwar in rechtsextremen Organisationen zusammengeschlossen, andere sympathisieren mit rechten Parteien, die meisten aber fallen im Alltag nicht durch politische Aktivitäten auf – weil sie sich selbst nicht als Rechtsextreme sehen und dieses Etikett weit von sich weisen würden. Heute nennt sich diese Gruppe gern »besorgte Bürger«; ihre Einstellungen sind rassistisch und völkisch-nationalistisch, die Aufklärung und rationales Denken sind ihnen genauso verhasst wie die Gleichberechtigung.
Bemerkenswert an diesen besorgten Rassisten ist, dass sie zwar ein ganzes Ensemble an rechtsextremen Positionen vertreten, allerdings keinesfalls als rechtsextrem bezeichnet werden möchten. Es geht um sozial durchaus gut integrierte Menschen, meist aus der unteren und mittleren Mittelschicht, oft mit akademischer Bildung, nicht selten männlich und mit solidem Einkommen, aber eben mit erheblichen irrationalen Ängsten. Ihre Einstellungen sind stramm rechts, das wollen sie sich aber nicht eingestehen und erfinden deshalb Etiketten, die es ihnen ermöglichen, im Selbstbild die Fremdbeschreibung »Rechtsextremist« möglichst weit von sich zu weisen.
Für diese Klientel war es in Zeiten vor der AfD schwierig, eine politische Heimat zu finden. Es fanden sich entweder offen neonazistische Parteien wie die NPD oder die DVU – oder eben konservative Parteien, die sich, ganz gleich ob aus inhaltlichen oder instrumentellen Gründen, um Abgrenzung nach Rechtsaußen bemühten. Es fehlte bisher eine Partei, die das gesamte antiaufklärerische Ressentiment in sich vereinigte, aber zugleich fortwährend bestritt, rechtsextrem zu sein. Dann kam die AfD – und Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel lieferten zunächst einen konservativen Lack über dem rechten Rost. Seit der Spaltung der Partei ist es damit vorbei, noch hält sich aber, nicht zuletzt dank des zurückhaltenden Umgangs der Medien mit der AfD, das Image einer zumindest nicht als rechtsextrem zu klassifizierenden Partei.
Insofern ist die AfD auch nur bedingt mit den rechtspopulistisch agierenden Bewegungen im Rest von Europa zu vergleichen – vielleicht am ehesten noch mit der österreichischen FPÖ, einer rechtsextremen Partei mit betont populistischem Image, die sich schon lange als Kraft der Antidemokraten im demokratischen System Österreichs etabliert hat. Nazi-Positionen formulieren zu können, ohne Rechtsextremist genannt zu werden, ist ein tiefer Wunsch in Deutschland, wo die Frage nach der Täterschaft der eigenen Großeltern bis heute fast nie gestellt wird.
Das ist das Spezifische an der AfD und ihrem Erfolg in einem Segment der Gesellschaft, das ökonomisch und sozial Teil der Mitte ist, weltanschaulich aber am rechten Rand steht: den eigenen, immer als zu klein empfundenen Luxus um jeden Preis gegen diejenigen verteidigen zu wollen, die im rechtsextremen Weltbild zum homogenen Kollektiv der »Ausländer« fusionieren. Der heute rassistisch agierende Teil der Mittelschicht scheint zu ahnen, dass der eigene Wohlstand sich nicht den unter dem Terminus »Wirtschaftswunder« herbeiphantasierten Leistungen der eigenen Großeltern verdankt. Der Ursprung der eigenen Privilegien, die die AfD mit völkischen und rassistischen Parolen zu verteidigen vorgibt, war historisch die schier unfassbare Bereitschaft der Alliierten, den Deutschen nach Nationalsozialismus und Massenvernichtung der europäischen Juden nochmal eine Chance zu geben. In einem viel tieferen Sinn, als dies die Migrationsforschung betont, liegt der Ursprung des deutschen Wohlstandes also im Ausland.
Sich dies einzugestehen, würde nicht nur eigene Unfähigkeiten offenbaren, sondern auch die Frage nach der NS-Täterschaft in der jeweils eigenen Familiengeschichte aufwerfen. Mit der AfD verbindet sich die Hoffnung, beides vermeiden zu können. Weil dies sozialpsychologisch nicht funktionieren kann, wird das radikalisierte Milieu, für das die AfD als Partei und Pegida auf der Straße steht, immer aggressiver und gewaltbereiter. Denn was abgewehrt wird, ist die Last der eigenen Vergangenheit und der eigenen sozioökonomischen Unfähigkeit, die man verleugnet und umso brutaler bei den anderen sucht und verfolgen muss. Diese praktische Radikalisierung von Teilen der schon vorher weltanschaulich radikalisierten Mitte kann zu zwei Ergebnissen führen: Entweder kommt es aufgrund von internen Machtkämpfen zum Bruch und damit zum Zerfall der demokratiefernen Bewegung oder aus den rassistischen Brandanschlägen und Übergriffen, wie wir sie gegenwärtig nicht nur, aber vor allem in Sachsen erleben, entwickeln sich rassistische Morde. Viel mehr Alternativen gibt es nicht in einer Bewegung, die sich in ihrer brutalen Aggressivität immer weiter selbst aufschaukelt – ganz gleich, ob sie ihre antiparlamentarischen und antiaufklärerischen Affekte in Landtagen oder auf der Straße zum Ausdruck bringt.