Zur kritischen Edition von »Mein Kampf«

Mit frisierter Lebensgeschichte

»Mein Kampf« darf wieder gedruckt werden. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte hat eine kritische Edition herausgegeben.

Warum gibt man Adolf Hitlers Schmähschrift »Mein Kampf« aus dem Jahre 1925 als kritische Edition heraus? Die Autoren waren auf diese Frage gefasst und beantworten sie gleich in der Vorbemerkung des Werkes. Sie beschreiben die immense Verbreitung von »Mein Kampf« zwischen 1925 und 1945. In diesen 20 Jahren wurden rund 12 Millionen Exemplare in Umlauf gebracht – ein Bestseller, der Hitler, wie man heute weiß, zum Millionär machte.
Auch nach 1945 war »Mein Kampf« trotz des Publikationsverbots nie verschwunden. Man konnte das Buch hier und da in Antiquariaten oder auf Flohmärkten kaufen oder es sich als PDF aus dem Internet herunterladen. Nur gedruckt werden durfte es bis zum 1. Januar nicht. Heute, 70 Jahre nach Ablauf des Urheberrechts, könnte jeder Verlag das Werk publizieren. Derartige Ankündigungen aber blieben bislang aus.
Obwohl das Buch also immer mehr oder weniger zugänglich war, hat nach Ansicht der Autoren eine kri­tische Beschäftigung mit »Mein Kampf« nie stattgefunden. Und das, obwohl es sich bei dem Buch um eine wichtige Quelle des Nationalsozialismus handelt. »Kaum ein Dik­tator hat solch einen Einblick sowohl in seine Gedankenwelt, als auch in seine eigene Biographie hinterlassen«, sagt Thomas Vordermayer, einer der Herausgeber der kritischen Edition, gegenüber der Jungle World.
Gelingt die Entmystifizierung des Buches? Zunächst einmal fallen die beiden Bände der kritischen Edition durch ihre Wuchtigkeit auf. Als hielte man eine Sonderedition der Bibel in der Hand. Bei der Gestaltung der Ausgabe haben sich die Autoren dann auch tatsächlich – Ironie der Geschichte oder nicht – an hebräischen Bibeldrucken aus dem 16. Jahrhundert und an den Schriften von Erasmus von Rotterdam orientiert.
Auf den rechten Seiten ist der Text von »Mein Kampf« inklusive originalgetreuem Umbruch dokumentiert, jede linke Seite ist mit Fußnoten gefüllt. Neben dem Quelltext wird außerdem auf die Veränderungen in den verschiedenen Ausgaben verwiesen. Rund 2 000 Seiten umfasst die kritische Edition, die beeindruckende Anzahl von 3 700 Fußnoten – zu beinahe jedem Absatz Hitlers werden Hintergründe geliefert – wird in jeder Besprechung erwähnt. Arbeitet man sich durch die Fußnoten, wird durch zahlreiche Bezugnahmen deutlich, dass es sehr wohl Veröffentlichungen gibt, die sich mit »Mein Kampf« beschäftigen. Die Fußnoten beschränken sich also in einigen Fällen darauf, den Forschungsstand wiederzugeben.
Insbesondere in den autobiographisch verfassten Kapiteln gelingt es den Autoren nicht, Licht in Hitlers Lebenswandel zu bringen. Peter Longerich hat in seiner jüngst erschienenen Hitler-Biographie darauf hingewiesen, dass der Diktator diese Textpassagen bewusst dazu genutzt hat, seine Lebensgeschichte zu frisieren. Die ärmlichen Jahre in Wiener Männerheimen sind quellentechnisch ungenügend erschlossen. Während Hitler auf den rechten Buchseiten über die heruntergekommene Millionenstadt Wien schwadroniert, können die Anmerkungen nichts daran ändern, dass man bis heute nicht genau weiß, was genau Hitler in diesen Jahren getan hat. Zur Entmystifizierung trägt die kritische Edition, die eine »Edition mit Standpunkt« sein will, wie die Autoren selbstbewusst ankündigen, an diesen Stellen nicht bei.
Auch in weiteren Kapiteln bleibt fraglich, ob diese Edition ihre aufklärerische Absicht erfüllen kann. Die Inhalte eines Buchs demaskieren zu wollen, das derart unstrukturiert ist, voller Schwülstigkeiten steckt, konsequent antisemitisch argumentiert und Vernichtungsphantasien ausbreitet, ist ein enormer Anspruch. Es gelingt den Herausgebern, den his­torischen Kontext sehr gut zu beleuchten. Die Fußnoten dienen als gut recherchiertes Kompendium zur Zeit des Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte. Aber wenn Hitler beispielsweise im zehnten Kapitel über die »Ursachen des Zusammenbruchs« von 1918 faselt, wird deutlich, dass man Antisemitismus eben nicht nur wissenschaftlich widerlegen kann. Hitler schreibt, dass »es (…) schon eine wahrhaft jüdische Frechheit (sei), nun der militärischen Niederlage die Schuld am Zusammenbruche beizumessen«. In der entsprechenden Fußnote wird lediglich ­darauf hingewiesen, dass es sich um einen gängigen antisemitischen Topos handele.
Hier wird deutlich, wie schwierig es ist, Wahnsinn objektiv zu widerlegen. Wenn Hilter von der »bodenlosen Verlogenheit des Judentums und seiner marxistischen Kampforganisationen« schreibt, bleibt er als glühender Antisemit den Nachweis für seine These schuldig, weil es diesen nicht gibt. Die Fußnote verweist dann auch nur darauf, dass Hitler »hier pauschal KPD, SPD und USPD« meine, die er »undifferenziert mit ›dem‹ Judentum gleichsetze«. Eine wissenschaftliche Widerlegung der Lügen, Verschwörungstheorien und Diffamierungen stößt hier an ihre Grenze. Wäre an dieser Stelle eine Statistik passender gewesen, die Aufschluss über den prozentualen Anteil jüdischer Mitglieder in der KPD gegeben hätte? Mit Sicherheit nicht. Ein solches Vorgehen hätte den Ansatz des Antisemitismus beinahe noch zu ernst genommen. Hatte Charlotte Knobloch doch Recht, als sie vor einem »Öffnen der Büchse der Pandora« im Hinblick auf die Edition warnte?
»Sicherlich gibt es gerade bei Überlebenden einen ganz klaren emo­tionalen Bezug zu dem Thema, dennoch ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Quelle ungemein wichtig«, merkt Thomas Vordermayer zu Recht an. Doch vielleicht hätten die Autoren klar die Grenzen einer solchen Edition aufzeigen sollen. Es ist kein Vorwurf, denn gerade die Bekämpfung des Antisemitismus kann eben nicht auf rein wissenschaftliche Weise erfolgen. Es handelt sich bekanntlich, wie auch das Beispiel »Mein Kampf« zeigt, um ein Wahngebäude, das mit Fakten allein nicht zu entlarven ist.
Die Büchse der Pandora haben die Autoren nicht geöffnet – sie war vielmehr die ganze Zeit offen. Man könnte lediglich die Frage stellen, ob sie die Aufmerksamkeit für »Mein Kampf« mit ihrer Edition zu sehr gesteigert haben. Denn warum war die erste Auflage der kritischen Edition – immerhin 4 000 Bände zu je 59 Euro – kurz nach Erscheinen vergriffen? Einige Bände waren bei Ebay, Kleinanzeigenportalen und Amazon zu Preisen bis zu 180 Euro erhältlich. Haben da einige den richtigen Riecher gehabt und können einen Gewinn mit dem Weiterverkauf der kritischen Edition verbuchen? Oder gibt es 4 000 historisch interessierte Leser, die schon seit Jahren auf die kritische Edition gewartet haben? Das Institut für Zeit­geschichte hat darüber hinaus 15 000 Vorbestellungen entgegen­genommen und druckt die Edition jetzt nach.
Das Autorenteam jedenfalls wurde von der Aufmerksamkeit überrascht. »Damit hätten wir nicht gerechnet«, sagt Vordermayer. Wer sich ein so unhandliches und sperriges Buch zulegt, das sich eher an die wissenschaftliche Öffentlichkeit wendet, darüber lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich sind es eher interessierte Bildungsbürger als AfD-Anhänger oder rechte Brandstifter. Thomas Vordermayer liegt mit seiner Einschätzung wohl richtig: Der Neonazi von heute orientiert sich eher nicht an den Inhalten von Hilters Schrift, er stellt »Mein Kampf« als Trophäe in den Bücherschrank. Auch wenn Versatzstücke aus Hitlers Werk, wie die rigorose Ablehnung des »Vielvölkerstaates« Österreich-Ungarn, erschreckend aktuell erscheinen.
Hitlers Schrift mag sich wissenschaftlich ergründen lassen, von dem Anspruch, den Text vollständig zu entmystifizieren, sollte man sich dennoch verabschieden.
Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. München 2016, Institut für Zeitgeschichte München und Berlin. 1 966 Seiten, 59 Euro