Der Roman »Der goldene Handschuh« von Heinz Strunk

Trauriger, trauriger Mensch

Von Studio Braun über Botho Strauß bis zum Frauenmörder Honka: Mit dem Roman »Der goldene Handschuh« entfernt sich Heinz Strunk weiter als je vom angestammten Publikum.

Zwischen 1970 und 1975 ermordete der Gelegenheitsarbeiter Fritz Honka in Hamburg mindestens vier Stadtstreicherinnen, die ihm im Umfeld der Reeperbahn begegnet waren: Gertraud Bräuer, Anna Beuschel, Frieda Roblick und Ruth Schult. Alle vier waren Trinkerinnen, prostituierten sich, wenngleich nicht professionell, im Hamburger Rotlichtmilieu, und waren zum Zeitpunkt der Tat wesentlich älter als der 1935 geborene Honka. Gertraud Bräuer, das erste Opfer, war 42 Jahre alt, als der betrunkene Mann sie in seiner Wohnung tötete, nachdem sie sich geweigert hatte, mit ihm und seiner Freundin Sex zu haben. Später zerstückelte Honka die Leiche und entsorgte die Körperteile auf einem nahegelegenen Schrottplatz, wo sie erst ein Jahr später durch Zufall gefunden wurden. Die drei anderen Frauen, alle älter als 50 Jahre alt, brachte Honka im Zeitraum von 1974 bis 1975 um. Auch sie hat er, nachdem er sie erschlagen oder erwürgt hatte, zersägt und verstümmelt, die Leichenteile versteckte er in Säcken an verschiedenen Orten nahe seiner Wohnung. Als Motiv für seine Taten gab er später die Weigerung der Frauen an, sich seinen sexuellen Wünschen zu fügen, und beklagte ihre Lustlosigkeit. Da keines der Opfer vermisst wurde, entdeckte die Polizei die Taten erst, als während der Löscharbeiten bei einem Brand in Honkas Mietshaus in seiner Wohnung weibliche Körperteile gefunden wurden.
Die Kneipe, in der Honka oft anzutreffen war und die Bekanntschaft einiger seiner Opfer machte, hieß »Der goldene Handschuh«. Heinz Strunk, der die Lebensgeschichte Honkas in seinem neuen Roman verarbeitet, hat den unpassend glorios scheinenden Namen als Titel für sein Buch gewählt. Die Idee, sich mit Honka zu beschäftigen, könnte Strunk, der in kleinen Bands gespielt hat, bevor er über Bela B. von den Ärzten die Bekanntschaft von Rocko Schamoni machte und mit ihm und ­Jacques Palminger das Studio Braun gründete, durch Honkas posthume musikalische Karriere gekommen sein. Nachdem Honka in dem 1975 von Carlo Blumenberg unter dem Namen Harry Horror veröffentlichten Club-Hit »Gern hab ich die Frauen gesägt« verewigt worden war, gründete Max Müller 1980 die Punk-Band Die Honkas, mit der er den Song »Für Fritz« herausbrachte. 2014 hat sich dann Andreas Dorau in dem Lied »Tannenduft« erneut mit Honka beschäftigt.
Auch mag das Sujet für Strunk lebensgeschichtlich und atmosphärisch nahegelegen haben. Strunk ist in Hamburg-Harburg aufgewachsen und macht immer wieder seine Schwierigkeiten mit Alkohol und Depressionen in seinen jungen Lebensjahren zum Thema. Der in Leipzig geborene Honka, der 1956 nach Hamburg kam, hat seinen Vater, einen durch Folgen der KZ-Haft gezeichneten Kommunisten, früh verloren und wuchs in Heimen auf, weil seine Mutter als Alleinerziehende mit neun Kindern überfordert war. Strunk, der sich in seiner Prosa beständig mit den in die Erwachsenenzeit nachwirkenden Folgen einer verdorbenen Kindheit beschäftigt, hat mit Honka insofern ein empirisch verbürgtes Studienobjekt für eigene Obsessionen gefunden. Trotzdem dürfte es kein Zufall sein, dass Strunk vor Erscheinen von »Der goldene Handschuh« unter dem Titel »Der zurück in sein Haus gestopfte Jäger« ohne satirische Absicht einen Band mit seinen Lieblingsstellen im Werk des von ihm verehrten Botho Strauß herausgegeben hat. So groß ist die Kluft zwischen dem dringlichen Ernst des Honka-Romans und der abgeschatteten Ironie von Strunks früheren Büchern, dass der große Einsame aus der Uckermark dazwischentreten musste, um die Zäsur zu markieren.
Was immer die Anregung gewesen sein mag, Honka zur Romanfigur zu machen, Strunk transponiert die Gestalt so konsequent in seine eigene Vorstellungswelt, dass aus den detailtreu wiedergegebenen Tatsachen und Strunks eigenen Idiosynkrasien etwas Drittes, Neues entsteht. Das Motiv der Alkoholabhängigkeit und die durch makabren Humor gemilderte, aber nie besiegte Depression begegneten sich schon in Strunks Romandebüt »Fleisch ist mein Gemüse« und die bis ins Erwachsenenalter nachwirkende sexuelle Misere der Pubertät war Gegenstand der merkwürdig unsatirischen Charlotte-Roche-Parodie »Fleckenteufel«. Doch anders als in Strunks früheren Romanen entsteht die poetische Form in »Der goldene Handschuh« nicht aus dem Ausspinnen biographisch-intimer Erfahrungen, sondern aus der Verdichtung des dokumentarischen Materials. Die im fortlaufenden Präsens wie ein eng an seiner Hauptfigur bleibender, aber sich nie vollkommen mir ihr identifizierender Bericht erzählte Handlung ist so stark verflochten mit Zitaten aus Zeitungsartikeln, Gerichtsprotokollen und Polizeiberichten, dass die Grenze zwischen Gefundenem und Erfundenem verschwimmt.
Über Orte und Akteure wird pflichtbewusst Protokoll geführt: »Seit 1962 hat der Handschuh rund um die Uhr geöffnet, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Es gibt einen vorderen und einen hinteren Teil. Hinten sind drei Tische, vorne vier. Rechts vom Eingang steht der L-förmige Tresen. Die Toiletten sind im Keller.« Die Lieder der Musikbox, von Heintjes »Du sollst nicht weinen« bis Adamos »Es geht eine Träne auf Reisen«, bilden das authentische Hintergrundgeräusch der in Armut abgedrifteten Kleinbürgertristesse, die »Fiete« Honkas Welt ist. Die Monologe der Gäste des »Handschuh« sind Spelunkenpoesie, ordinär und versponnen, Dokumente vergangener Zeit. Honka philosophiert: »Jeder Mensch hat ein Arsch, eigentlich komisch … ein Arsch hat jeder, ob er normal is oder verrückt … ein Verrückter hat kein andern Gedanken als jeder andre normale Mensch auch, aber bei ihm sind sie sicher im Kopf eingesperrt und komm nicht raus. Der Kopf ist ganz abgeschlossen, es geht da nichts rein, der bleibt ein Leben lang mit sich allein, ein See ohne Zufluss, ein totes Meer.« Doch die Melange aus Sentimentalität und kühner Metaphorik ist keine Verherrlichung der einfachen Leute. Im Wunsch, den abgeschlossenen Kopf zu öffnen und das tote Meer zum Fließen zu bringen, kündigt sich schon der Mordexzess an, mit dem Honka, der »traurige, traurige Mensch«, sich selbst endgültig noch schlimmer macht als die Welt, in der er lebt. Die Schmähtiraden der Frauen, die Honka zum Opfer fallen, bringen in ihrem Erfindungsreichtum ein ähnliches Bedürfnis zum Ausdruck, alles kurz und klein zu schlagen: »Kacksauschaft, Pisskotzer, Arschschwein«. Als hätte die poetische Einbildungskraft ihren innersten Grund in einer mühsam verborgenen, immer wieder brutal hervorbrechenden, gleichsam naturgeschichtlichen Wut.
Die Ausbrüche der Wut wiederum schildert Strunk sachlich und kühl, ganz anders als die beliebten Serienkiller- und Torture-Porn-Reißer, im Vergleich mit denen sein Buch wie von einem anderen Stern wirkt. Am Ende verebbt der Bericht, von ferne an das »So lebte er hin« aus Georg Büchners »Lenz« erinnernd, im Gefängnisprotokoll von Honkas Stagnation. Doch immer dort, wo Strunk die vulgäre Sprache und schmalspurige Phantasie seiner Figuren sich in abstrusen Neologismen und schiefen Metaphern überschlagen lässt, sagen sie mehr über ihre eigene Frustration und Rohheit, als sich berichtend erfassen lässt. Die Liebe zum Heintje-Lied animiert einen Kumpel Honkas zu einem deliranten Monolog über den Wehrmachtstod eines ehemaligen »Kameraden«, der am Ende statt des Kopfes »nur noch ein Loch auf dem Hals mit Blut drin« hatte, wie als Zerrbild von Honkas Wunsch, den Kopf zu öffnen, damit das »tote Meer« fließen kann. Dass in Honkas sexuellen Phantasien, obgleich sein Vater den Nationalsozialisten zum Opfer fiel, SS-Uniformen, gekeifte Befehle und Erniedrigungen eine dominante Bedeutung haben, verleiht seinen Morden den Beiklang eines nie überwundenen, in ihm fortlebenden Alltagsfaschismus. Die Verachtung alter, lustloser Frauen, in denen sich Honkas eigene Misere spiegelt, mag eine Facette davon sein.
Doch Strunk geht es nicht um eine sozialpsychologische Erklärung, sondern darum, ohne sich mit seiner Figur zu identifizieren und gebrochen durch die dokumentarische Distanz, eine Honka gemäße Sprache zu finden. Seltsamerweise kommt er gerade dabei dem Ton von Botho Strauß besonders nahe, Wortfindungen wie »Hartgeldlude«, »Schmiersuff«, »Zwielichtmeer« oder »Tücke-Mücke-Augen« könnten genuin Straußsche Schöpfungen sein. Der Eremitenjargon wird sozusagen ­zurückgeholt in die Sphäre der Säufer, Spinner und Asozialen; Sprache weniger der Versprengten als der Abgehängten, und damit soziale Ausdrucksform. Für den Preis der Leipziger Buchmesse, für den der Roman nominiert ist, müsste allein dieses Kunststück reichen.
Heinz Strunk: Der goldene Handschuh. ­Rowohlt, Berlin 2016, 265 Seiten, 19,95 Euro