Der Teilabzug der russischen Truppen aus Syrien

Das große Rätselraten

Was bezweckt Wladimir Putin mit dem Teilabzug russischer Truppen aus Syrien?

167 Tage lang dauerte das russische Bombardement in Syrien. Wie viele Menschen dabei zu Tode kamen oder verletzt wurden, wie viele fliehen mussten, weiß bis jetzt niemand genau. Jedenfalls zerstörte die russische Luftwaffe gezielt Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und andere zivile Infrastruktur. Angeblich ging es darum, islamische Terroristen zu bekämpfen. Und hin und wieder flog die russische Luftwaffe auch Angriffe gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Danach berichteten Mitglieder der Organisation »Raqqa is being slaughtered silently« regelmäßig von unzähligen zerbombten Wohnhäusern und toten Zivilisten.
Vornehmlich aber dienten die Bombardements als Luftunterstützung für Bodentruppen, also für die Hizbollah und andere schiitische Milizen, iranische Soldaten und die Überreste der syrischen Armee, die in Syrien gegen nichtjihadistische Rebellen kämpfen. Dank der russischen Hilfe befanden sie sich in den vergangenen Monaten erstmals wieder in der Offensive, ja drohten sogar Städte wie Aleppo und Idlib einzuschließen.
Bis Mitte Februar sah es ganz so aus, als gelänge es in der Tat, den syrischen Bürgerkrieg mit Waffengewalt zu gewinnen. Während die USA und Europa den Rebellen ihre Unterstützung entzogen, marschierten Bashar al-Assads Alliierte von Sieg zu Sieg und trieben eine neue Flüchtlingswelle vor sich her. Entsprechend siegessicher gab man sich auch in Damaskus und Teheran, ließ verlautbaren, bald werde das ganze Land wieder unter der Kontrolle Assads stehen.
Und dann stimmte Russland plötzlich – Aleppo war schon fast eingeschlossen – einer Feuerpause zu, die sogar weitgehend eingehalten wurde, nur um wenige Tage später bekannt zu geben, man wolle große Teile seiner Truppen nun aus Syrien zurückziehen.
Einmal mehr zeigte sich, dass es längst die russische Regierung ist, die dieser Tage die Ereignisse im Nahen Osten bestimmt. Aber was hatte den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu dieser überraschenden Entscheidung veranlasst? Umgehend wurde vielerlei gemutmaßt, aber wirklich schlüssig zu erklären vermag sie bislang niemand.
Ist der Schritt ein Zeichen von Stärke? Hat Putin sein Ziel erreicht, das ganz sicher nicht vornehmlich darin bestand, den »Islamischen Staat« zu zerschlagen, wie offiziell im vergangenen September aus Moskau verlautbarte. Was war dann das Ziel?
Oder ist es ein Zeichen von Schwäche? Geht Russland langsam das Geld aus und fürchtet Putin angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage innenpolitischen Widerstand gegen seinen Kriegskurs? Hat er eingesehen, dass man in Syrien militärisch nicht siegen kann, nur immer tiefer in den Konflikt hineingezogen wird und Assad langfristig nicht zu halten ist? Setzt er nun auf eine Verhandlungslösung?
Oder hat sich Russland mit seinen Allliierten in Damaskus und vor allem Teheran überworfen? Ist der angekündigte Teilabzug nur eine drohende Geste gegenüber der syrischen und iranischen Regierung, deren Ziel, nämlich die militärische Kontrolle ganz Syriens, man nicht teilt? Will Russland es sich nicht völlig mit den Golfstaaten verscherzen? Diese hatten ja in letzter Zeit – unter anderem indem sie die Hizbollah zur Terrororganisation erklärten – deutlich gemacht, dass sie bereit sind, den Konflikt mit dem Iran eskalieren zu lassen.
Gibt es gar eine Einigung mit den USA, die in letzter Zeit als Akteur in Syrien kaum noch in Erscheinung traten, und wurde Putin die Aufhebung oder Lockerung der wegen seiner Ukraine-Politik verhängten Sanktionen in Aussicht gestellt, sollte er sich im Nahen Osten kooperativ zeigen?
Dass Putins Ankündigung ausgerechnet zum Jahrestag des Beginns der Aufstände in Syrien kam, wurde von syrischen Oppositionellen als Eingeständnis einer Niederlage gefeiert –ob zu Recht sei dahingestellt. Seit die von Rebellen gehaltenen Gebiete nicht mehr täglich bombardiert werden, finden in ihnen wieder regelmäßig Massenproteste gegen das Assad-Regime und neuerdings auch gegen die al-Nusra-Front statt, den syrischen Ableger von al-Qaida. Es sind Bilder von diesen Demonstrationen, die zugleich auch das von Russland verbreitete Narrativ konterkarieren, in Syrien gebe es außer Islamisten keine Opposition mehr.
Während die Demonstranten feierten, verlor das syrische Pfund weiter an Wert und aus den wenigen Stellungnahmen, die von der syrischen Regierung und dem verbündeten Iran abgegeben wurden, sprach alles andere als Begeisterung über die russischen Pläne.
Ohne Russlands Unterstützung hat der syrische Präsident kaum eine Chance. Die etwa von der deutschen Bundesregierung geäußerte Hoffnung, das syrische Regime werde deshalb nun in Genf Zugeständnisse machen, ist allerdings illusorisch. Denn an der Grundkonstellation des ganzen Konflikts hat sich fünf Jahre, eine halbe Million Tote und 14 Millionen Geflüchtete später nichts geändert: Sowohl Opposition als auch Regierung betrachten den Verbleib Assads an der Macht als nicht verhandelbar.