Die Dunkelziffer bei antisemitischen Straftaten ist hoch

Doppelte Portion Antisemitismus

Im Jahr 2015 wurden in Deutschland jeden Tag durchschnittlich zwei antisemitische Straftaten polizeilich erfasst. Die offiziellen Zahlen zeigen jedoch nur einen kleinen Anteil solcher Taten. Das belegt auch die Arbeit neuer unabhängiger Beobachtungsstellen in Berlin und Kassel.

»Heil Hitler!« Es war einer der ersten Grüße, die Joseph* dieses Jahr zu hören bekam. Am Neujahrstag machte er sich auf den Weg in die Kasseler Synagoge, um dort zu beten. Kurz bevor er dort ankam, wurden ihm die beiden Wörter zugeraunt – von einem Unbekannten, aus unmittelbarer Nähe, ­genau in der Lautstärke, dass nur Joseph sie hören konnte. Anzeige hat er nicht erstattet. Er glaubt, dass die Polizei Wichtigeres zu tun hat. Aussicht auf Erfolg haben solche Anzeigen ohnehin nur selten. Erwischt man die Täter nicht zufällig auf frischer Tat, wird das ­Verfahren meist nach wenigen Wochen eingestellt, weil sie nicht zu ermitteln sind.
Josephs Fall wird also nicht in die offiziellen Statistiken der Behörden über antisemitische Vorfälle eingehen. Er gehört zur Dunkelziffer. Allerdings hat Joseph den Vorfall zur Dokumentation eingereicht: bei der »Informationsstelle Antisemitismus Kassel«. Die neue Einrichtung soll antisemitische Übergriffe, Straftaten und Vorfälle im Raum Kassel dokumentieren, aufgrund der Erfahrung, dass entsprechende Vorfälle nur selten angezeigt werden. »Klar ist, dass die Chronik nie vollständig sein wird«, heißt es seitens der Stelle. Die Öffentlichkeit nehme die meisten Fälle nicht wahr.
Das Vorbild für die Informationsstelle für den Raum Kassel ist die »Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin« (RIAS), mit der auch ein Kooperationsvertrag besteht. Auf Deutsch, Englisch und Russisch können unter www.report-antisemitism.de antisemitische Vorfälle in Berlin gemeldet werden. Im März berichtete die RIAS zum Beispiel von einem Fall, in dem eine jüdische Familie verreist war und zur Versorgung der Haustiere den Schlüssel zu ihrer Wohnung an Bekannte weitergegeben hatte. Die wiederum waren selbst verhindert und gaben den Schlüssel an Dritte weiter. Als die jü­dische Familie aus dem Urlaub zurückkam, stellte sie fest, dass jemand mit einer fetthaltigen Substanz ein Hakenkreuz von innen ans Küchenfenster geschmiert hatte, das auch von außen sichtbar war.
Auch Fälle, die nicht direkt der RIAS gemeldet werden, dokumentiert deren kleines Team. So etwa, als am 4. März ein 75jähriger Mann auf einem U-Bahnhof in Friedenau mit einer Glasflasche angegriffen wurde. Der 27 Jahre alte Täter beschimpfte sein Opfer zunächst als »Judensau«, zeigte sogenannte Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, schlug dann mit der Glasflasche auf den Kopf des Rentners ein und zeigte den Hitlergruß.
Beide Fälle wurden bei der Polizei aktenkundig. Sie können so in die offizielle Statistik eingehen, anders als der von Joseph in Kassel. Für das Jahr 2015 zählte die RIAS 401 antisemitische Vorfälle allein in Berlin, von denen jedoch nur 183 in die offizielle Polizeistatistik eingingen. Weil 2014 zehn Fälle mehr in der offiziellen Statistik standen als 2015, sprechen staatliche Stellen von einem leichten Rückgang der antisemitischen Vorfälle.
Die Arbeit der Meldestellen in Berlin und Kassel eröffnet nun aber eine genauere Vorstellung über die Dunkelziffer. Diese wird von der RIAS wesentlich höher benannt als die offizielle Zahl. Doch selbst wenn man sich nur an den amtlichen Daten orientiert, ist das derzeitige Bild erschreckend. Für Januar 2016 zählte die Bundesregierung bundesweit 43 als antisemitisch eingestufte Straftaten, unter anderem drei Gewalttaten mit drei Verletzten. Im gesamten Jahr 2015 fanden 740 antisemitische Straftaten Eingang in die vorläufige offizielle Statistik – etwa zwei pro Tag. Darunter waren auch 18 Gewaltdelikte mit 15 Verletzten.
Aus der offiziellen Statistik kann man noch etwas anderes herauslesen: warum eine Anzeige häufig ausbleibt. Offenbar gelingt es Polizei und Justiz nicht, antisemitische Straftaten hinreichend wirksam zu verfolgen. Für die im vergangenen Jahr registrierten Fälle gab es insgesamt 398 Tatverdächtige, jedoch lediglich drei vorübergehende Festnahmen. So lief es auch bei dem Angriff mit der Glasflasche in Berlin-Friedenau: Der Angreifer wurde vorübergehend festgenommen, kam zur erkennungsdienstlichen Behandlung und einer Blutentnahme in eine Gefangenensammelstelle und wurde anschließend wieder entlassen. Es bleibt abzuwarten, ob der Täter verurteilt oder überhaupt vor ein Gericht ­gestellt wird. Meist werden die Verfahren eingestellt, wenn es sich nicht ge­rade um vorbestrafte Täter oder Fälle von besonderem öffentlichen Inter­esse handelt.
Ein solches öffentliches Interesse gab es zum Beispiel, als im August 2012 in Berlin der Rabbiner Daniel Alter im Beisein seiner Tochter von vier Männern überfallen wurde. Nachdem er die Frage der Angreifer, ob er Jude sei, bejaht hatte, wurde er von den Tätern beleidigt, geschlagen, verletzt und seine Tochter mit dem Tod bedroht. Neben dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle zeigte sich auch das israelische Außenministerium schockiert. Obwohl bei der Fahndung nach den Tätern eine Belohnung von 6 000 Euro ausgeschrieben wurde, blieb die Suche erfolglos.
Im Dezember endete ein anderer Fall mit einer Verurteilung: Das Amtsgericht Oranienburg verurteilte den vorbestraften NPD-Politiker Marcel Zech wegen Volksverhetzung zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung. Er hatte in der Öffentlichkeit ein Tattoo auf seinem Rücken gezeigt, das ein Konzentrationslager und den Spruch »Jedem das Seine« abbildet, der am Eingang des Lagers Buchenwald zu lesen war.
Jüdische Institutionen beschreiben die Situation in Deutschland als in wachsendem Maße besorgniserregend. Das Netzwerk zur Bekämpfung und Erforschung des Antisemitismus (NEBA) spricht dieser Tage von einer »Zeit zunehmender Radikalisierung« der Antisemiten und beobachtet sinkende Hemmschwellen der Täter. Doch Polizei und Justiz tun sich schwer damit, Antisemitismus überhaupt zu erkennen. Neuere Formen des Antisemitismus, wie etwa israelbezogener Antisemitismus, werden viel zu oft nicht als solche behandelt.
Im Sommer 2014 schleuderten drei Palästinenser Brandsätze auf die Wuppertaler Synagoge. Vor Gericht beteuerten die Täter, nichts gegen Juden zu haben und nur auf die Situation im Gaza-Streifen hinweisen zu wollen. Das Wuppertaler Gericht verurteilte die Männer wegen versuchter schwerer Brandstiftung zu Bewährungsstrafen, verneinte aber eine antisemitische Motivation. Im Berufungsverfahren im Januar sprach zumindest der Staatsanwalt von einer antisemitischen Tat, doch der Richter nahm das Wort Antisemitismus in seiner Urteilsverkündung nicht in den Mund.
Wenn nicht einmal Brandanschläge auf Synagogen als zweifelsfrei antisemitisch gelten, müssen offizielle Zahlen insgesamt angezweifelt werden. In einem aktuellen Forderungskatalog »zur Sicherung des jüdischen Lebens« fordert das NEBA auch wegen solcher Vorfälle die »Festlegung einer einheitlichen Begriffsbestimmung«. Diese soll auf der »Arbeitsdefinition Antisemitismus« basieren, die das einstige »European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia« (EUMC) 2005 beschlossen hat. Die Defintion umfasst auch neuere Formen der Judenfeindschaft. Das NEBA bemängelt eine bislang zu ungenaue Erfassung der Dimension des Problems.
Obwohl staatliche Stellen den Hass auf Juden nicht angemessen bekämpfen können oder wollen, lassen sich Spitzenpolitiker wie zum Beispiel Frank-Walter Steinmeier (SPD) immer wieder gerne mit wohlfeilen Sätzen zitieren. Der Bundesaußenminister sagte anlässlich der dritten Konferenz der Interparlamentarischen Koalition zur Bekämpfung des Antisemitismus (ICCA), die Anfang vergangener Woche in Berlin stattfand: »Antisemitismus geht gegen unsere Verfassung, geht gegen unsere Zivilisation, steht gegen alles, woran wir glauben, und alles, was wir gelernt haben.«
Für mehr als warme Worte gegen Antisemitismus hat es allerdings wieder nicht gereicht. Antisemitismus ist Alltag in Deutschland. Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, Kippaträger überfallen, Unterstützer Israels attackiert, jüdische Einrichtungen beschmiert und Juden täglich mit Hassbotschaften in E-Mails, Briefen und Social-Media-Kommentaren belästigt werden, findet man bestenfalls bedauernde Worte. Vor allem dann, wenn internationales Publikum zuhört. Doch in aller Regel werden die Opfer allein gelassen.

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt.