Kapitalistische Investitionspolitik und Stadtentwicklung

»Es fehlt der Wille, die Stadt als Sozialraum zu gestalten«

David Harvey, kritischer Stadtforscher, über Kapitalismus, Großstädte und sozialen Wohnungsbau.

Lange Schlangen vor dem berühmten Odeon-Theater in Rio de Janeiro, Jugendliche, die sich vor der Bühne drängen, um sich mit Ihnen auf einem Selfie zu verewigen: Das sieht auf dem ersten Blick nicht nach einem Crashkurs in kritisch-marxistischer Stadtforschung, sondern eher nach einem Konzert der Rolling Stones aus.
Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Ich treffe mit meiner Arbeit einen Nerv, irgendwie verbinden die Leute meine Ideen mit ihrem Alltag und das macht mich persönlich sehr glücklich. Nicht jeder in meinem Alter genießt das Privileg, dass einem die Kids zuhören. Das schaffen Akademiker, die von einer neoliberalen Denkweise beeinflusst sind, kaum.
Besonders affin scheint diese kritische Jugend für Ihre Thesen zur Eroberung der Stadtentwicklung durch den Finanzkapitalismus. Lassen diese Thesen sich ohne weiteres auf die Länder des Südens und des Nordens anwenden?
Einerseits werden die Städte im globalen Süden als große Ausnahmen betrachtet – über den globalen Süden kann man treffliche Bücher im Stile von Mike Davis’ »Planet der Slums« schreiben. Andererseits: Das Finanzkapital baut sich im Norden wie im Süden vor allem Städte, damit Menschen in diese investieren, und nicht, damit sie darin wohnen. Man muss also auch erklären können, warum mitten in einem Slum plötzlich ein Apartmenthochhaus für die Megareichen steht, so wie in Indien dieses 40stöckige Gebäude, das nur von einer Person bewohnt wird. Die Superreichen bauen sich überall geschlossene Wohnviertel, auch hier in São Paulo oder Rio.
Abgeschottete Apartmentblocks gibt es doch schon länger.
Ja, aber selbst in Ramallah boomt heute der Bausektor, ganze Stadtteile entstehen dort nach neoliberalen Prinzipien. Das Kapital, das in den Süden strömt, verändert die Städte radikal. Zum Beispiel Santiago de Chile: Neue Stadtautobahnen, Shopping Malls, luxuriöse Wohnviertel und Kinos werden gebaut, ohne die Situation der verarmten Bevölkerung zu verbessern. Viele Elemente dieses Finanzkapitalismus sind rund um die Welt identisch, sie produzieren eine homogene Umwelt.
Bis irgendwann das Geld ausgeht.
Klar, diese Entwicklung ist krisenanfällig. Dubai konnte 2009 seine Schulden nicht bezahlen und die Vereinten Arabischen Emirate mussten helfen. Andererseits ist diese Art der Finanzialisierung von Wohnraum eine wundervolle Gelegenheit, um Geld zu waschen, aus Drogengeschäften, mafiöses Geld überhaupt. Immobilien sind eine große Nummer, früher in Chicago, heute in Quito. Da fragt man sich: Hat das noch etwas mit Geldanlage zu tun oder ist das einfach ein hübscher Weg, auf dem kolumbianisches Drogengeld wieder in Umlauf gebracht wird?
In Brasilien werden beim Umbau der Städte auch neue Sozialwohnungen an der Peripherie geschaffen, ebenso ist eine zunehmende Militarisierung und Überwachung urbaner Räume zu beobachten. Wie verbinden sich Kontroll- und Enteignungsprozesse mit der urbanen Transformation, von der bisher die Rede war?
Vor sechs Jahren habe ich einen Aufsatz über das Recht auf Stadt geschrieben und vorhergesagt, dass in Rio de Janeiro die meisten Favelas in attraktiver Lage das Schicksal der Gentrifizierung ereilen werde. Dem musste natürlich eine Formalisierung vorausgehen, das Ausstellen von Eigentumstiteln für die Bewohnerinnen und Bewohner. Und zum Teil ist genau das passiert, vor allem in den Favelas mit schöner Aussicht über die Bucht. Dieser langsame Prozess wird durch eine starke Polizeipräsenz ermöglicht, lokale Machtstrukturen werden angegriffen. Die fußen vor allem auf dem Drogenhandel und haben eine breite soziale Basis, die nur schwer zu verdrängen ist. Ein guter Teil der polizeilichen Kontrolle in Rio de Janeiro wird dann als Mittel sozialer Verbesserung angepriesen – aber sie dient in erster Linie dem internationalen Finanzkapital, das nun in den ­»befriedeten« Stadtteilen investieren kann.
Wo in Brasilien im großen Stil gebaut wird, werden viele Menschen animiert, in eine der neu entstehenden Sozialwohnungen des städtischen Sozialbauprogramms »Mein Haus, Mein Leben« zu ziehen. Ist das eine Alternative?
Nein, denn in diesem Wohnungsbauprogramm geht es nicht darum, urbanes Leben oder soziale Beziehungen aufzubauen. Die Baufirmen bekommen Geld und es heißt »lasst sie die Häuser bauen und überlasst sie dann den Leuten«. Ich habe ähnliche Sachen in Argentinien gesehen. Es werden einfach nur Wohnungen hingeklotzt. Keine Schulen, keine Einkaufsmöglichkeiten, keine öffentliche Infrastruktur. Wenn man aus einer Gegend vertrieben wird, in der man Sozialkontakte und einen Lebensstil etabliert hatte, und dann auf ein fremdes Stück Land gesetzt wird, vielleicht sogar, ganz technisch betrachtet, mit einer besseren Wohnung, dann wiegt das nicht den Fakt auf, dass man aller Vorzüge urbanen Lebens beraubt wurde, die man vorher genossen hat. Das ist das Problem.
Wie sollte auf soziale Weise gebaut werden? Wie könnte eine städtische Politik aussehen?
In Uruguay zum Beispiel wird ein Teil der Sozialwohnungen direkt von den Menschen gebaut, die später dort leben werden. Es wird organisiert gebaut, gemeinsam. Dabei erhalten die Menschen Unterstützung von Architekten und Ingenieuren, bekommen Material und ein Baugrundstück. So schafft sich eine Gruppe von Menschen ihr eigenes Fleckchen zum Leben und es entstehen ganz phantastische urbane Umgebungen. Wenn es überall so wie in Uruguay laufen würde, dann wäre sozialer Wohnungsbau eine tolle Sache. Aber heute geht es meist eher um die Interessen der Baufirmen und nicht um die der Bewohner. Es fehlt der Wille, die Stadt als Sozialraum zu gestalten, anstatt sie zum Investitionsobjekt zu degradieren.
Aber den ganzen Tag auf der Baustelle zu verbringen, ist nicht für jede und jeden der ideale Weg zu einem anderen Wohnen. Manche können da auch körperlich nicht mitziehen oder haben einen Job, den sie nicht aufgeben wollen.
Das muss auch gar nicht sein, auch in Uruguay läuft es nicht so. Wichtig ist einfach, dass die Menschen als eine Community in diesen Bauprozess involviert sind. Entweder indem sie jede Woche 15 Stunden Arbeitszeit für einige Jahre zur Verfügung stellen oder indem sie sich in die Wohnkooperative einkaufen. Wer mit seiner Arbeitskraft zahlt, hat aber den Vorteil, viel zu lernen, handwerkliche Fähigkeiten als Klempner oder Elektriker. Das sind letztlich wichtige Fähigkeiten, um eine Gemeinschaft aufzubauen. Das uruguayische Etikett des sozialen Wohnungsbaus ist das, was mich bisher am meisten überzeugt hat.
Vertreibung findet nicht nur innerhalb von Städten statt. Nach Europa kommen derzeit viele Flüchtlinge aus Ländern, in denen Krieg herrscht. Zunächst sind die Ankommenden aber von der kapitalistischen Verwertung ausgeschlossen, dürfen nicht arbeiten, erhalten keine Kredite. Zugleich sind Meinungen wie »Migranten liegen uns auf der Tasche und bringen Krimi­nalität in unsere Städte« weit verbreitet. Ist das nicht paradox?
Der wirtschaftliche Aufstieg ganzer Teile Europas, Deutschlands im Besonderen, wurde nur durch Migranten möglich, die Arbeitskraft oder Kapital mitbrachten. Viele syrische Flüchtlinge kommen nicht aus verarmten Verhältnissen, sondern aus der Mittelklasse, sind hoch gebildet. Das heißt, da kommt eine sehr talentierte Gruppe von Menschen nach Europa. Deutschland hat ein demographisches Problem, eine überalterte Bevölkerung und zu wenig junge Arbeitskräfte. Ich glaube, so muss man die Position von Angela Merkel gegenüber den Flüchtlingen verstehen, das kann der deutschen Wirtschaft sehr gut tun. Das Problem dabei ist die öffentliche Meinung, diese ungebrochene Überzeugung, dem Rest der Welt ­irgendwie überlegen zu sein, »den faulen Griechen« und diesen »schrecklichen Mittelmeermenschen«. Rechte Politiker und Kapitalisten haben diese Vorurteile genährt, um vom Versagen des Bankensystems und des Kapitalismus abzulenken. Auch das hat dazu geführt, dass die antimigrantische Bewegung und fremdenfeindliche Politiker so erstarken konnten. Das macht es schwer, rational über die positiven wirtschaftlichen Effekte zu reden, die eine Aufnahme von Migranten poten­tiell mit sich bringt.
Gerade für die europäische Linke stellen sich neben der wirtschaftlichen Teilhabe noch ganz andere Fragen, etwa die nach politischer und sozialer Teilhabe. Wie können die Migranten in ihrer Artikulation und ­ihrem Bemühen, sich zu organisieren, gestärkt werden?
Darauf muss die Linke Antworten finden. Es ist wichtig, migrantische Selbst­organisation zuzulassen und zu fördern. Ich war vor einiger Zeit in der Türkei, wo viele Flüchtlinge aus Syrien leben. Einige von ihnen haben Geld und man kann zuschauen, wie sie Geschäfte aufbauen. Manche haben sogar die Mittel, Häuser zu kaufen und Leute zu beschäftigen, bevorzugt natürlich Syrer, die einen Job suchen. Solch eine Migrationsbewegung kann einen großen Beitrag zur Entwicklung eines Landes leisten. Es ist falsch, Migration pauschal als ökonomische Belastung zu begreifen. Das ist sie nur dann, wenn man Menschen einsperrt und ihnen verwehrt, sich gesellschaftlich zu beteiligen. Denn die meisten wollen etwas tun, nicht unbedingt um die deutsche Wirtschaft zu stärken, sondern einfach weil sie ihr Leben leben wollen.