Gamification ist der Exorzismus des Spiels

Lasst nicht mit euch spielen

Spielerisch haben die Menschen den Unterschied zwischen verrinnender und erfüllter Zeit gelernt. Heute exorzieren sie spielend die Erinnerung an alles, was nicht auf die Timeline zwischen Wiege und Grube passt.

In Alain Resnais’ Film »Letztes Jahr in Marienbad« spielt ein namenloser Mann mit verschiedenen Partnern immer wieder ein Spiel mit Streichhölzern, das sich Nim-Misère nennt, dank Resnais aber heute als Marienbad-Spiel bekannt ist. Dabei werden 16 Streichhölzer in vier Reihen angeordnet: in der ersten eines, in der zweiten drei, in der dritten fünf, in der letzten sieben. Beide Spieler nehmen abwechselnd beliebig viele Hölzer weg, die jeweils aus nur einer Reihe stammen dürfen. Verloren hat, wer das letzte Hölzchen nehmen muss. Vorformen des Spiels existierten schon im alten China, in der heutigen Form ausgearbeitet wurde es aber Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Mathematiker Charles Bouton. Noch heute beschäftigen sich Wahrscheinlichkeitstheoretiker gern damit. Bei Resnais dagegen wirkt es wie ein Spiel, das es immer gegeben hat, nicht einfach etwas aus vergangenen Zeiten wie das barocke Dekor und die französischen Gärten, in denen sich die Menschen seines Films als Figuren eines außenweltlosen Innenraums bewegen – eher wie die kondensierte Form allen Spiels überhaupt.
Das Marienbad-Spiel schleift keinen ideologischen Ballast mit sich, wie misslungene Gesellschaftsspiele; anders als die meisten Kartenspiele ist es ein Spiel für nur zwei Partner, die zugleich Gegner sind; im Unterschied zum Schach, bei dem weitsichtig glotzende Männer sich stundenlang am Kinn kratzen, muss es zügig gespielt, kann aber beliebig oft wiederholt werden; und im Gegensatz zu fast allen Spielen bedeuten Verlust und Sieg in ihm, obwohl es sie gibt, überhaupt nichts. Der Verlierer ist nicht geschlagen, seine Niederlage vollendet vielmehr die Partie. Sieg und Niederlage haben im Marienbad-Spiel auch nur teilweise mit Geschick und Erfahrung zu tun. Wenn es von zwei Partnern gespielt wird, die es beide perfekt beherrschen, bemerken beide zugleich den Augenblick, in dem einer von ihnen verlieren muss. Der Verlierer kann für seine Niederlage nichts, sie ist aber auch kein Pech, sondern hat sich von einem gewissen Moment an notwendig aus der Abfolge der Züge ergeben, die aus der offenen Situation eine geschlossene gemacht haben. Niederlage und Sieg beenden nicht das Spiel, sondern es geht in ihnen auf; konsequenterweise ist in anderen Varianten des Spiels der Spieler mit dem letzten Hölzchen nicht Verlierer, sondern Sieger. Ähnliche Reinheit erreicht nur die Patience, die sympathischerweise jeder mit sich selbst spielen kann.
So interessant die Kulturgeschichteverschiedener Spiele ist, so lehrreich es sein mag, die Verhaltensweisen zu studieren, die beim auftrumpfend-kompetitiven Skat oder beim schläfrig-geselligen Bridge eingeübt werden, im Innersten der Spiele ist stets eine entlastende Leere. Sogar Spiele wie Monopoly, die ihren gesellschaftlichen Sinn aufdringlich betonen, leben nicht eigentlich von den unsympathischen Verhaltensweisen, an die sie nach Meinung witzloser Ideologiekritiker die Menschen gewöhnen, sondern von solcher Leere. Die in sich abgezirkelte Leere der Spiele schafft einen Bannkreis, der es erlaubt, temporär aus der Leere des Lebens herauszutreten. Ihre Regeln, je strenger desto besser, sind Gegenregeln gegen dieses Leben, dem sie dennoch angehören; der Zweck, der das Spiel in sich selbst ist, rückt die Schalheit der Zwecke ins Licht, in deren Bann das Leben steht. Deswegen negiert jedes Spiel, unabhängig von seinem konkreten Inhalt, die Welt, wie sie ist. Geselligkeit, Ansprechbarkeit, lebendige Phantasie, Freude an sich und am anderen, die im mürben Dasein der Menschen kaum mehr Möglichkeit der Betätigung finden, kristallisieren sich um die Spiele zum glücklichen, aber ohnmächtigen Vorschein dessen, was das Leben sein könnte, wenn Druck und Last verschwänden und niemand Angst haben müsste.
Damit negiert das Spiel auch eine bestimmte Form der Zeiterfahrung: nicht allein die substanzlos verfließende Zeit, wie sie bei Schopenhauer und Nietzsche im Bild des Chronos gefasst ist, der seine Kinder verschlingt. Sondern auch die segmentierte, auf Arbeits- und Freizeitquanten hin zerstückelte, in unverbundene, gleichwohl zur Totalität zusammentretende Teile dissoziierte Zeit, in der nichts Sinn hat und alles unausweichlich ist. Dieser leeren Zeit stellt das Spiel keine eigentliche, irgendwie tiefsinnigere entgegen, in der die Geheimnisse offenbart würden, um die der Alltag betrügt. Überhaupt hat das Spiel keine Affinität zum Geheimnis, sondern zum Rätsel, das selbst zum Spiel tendiert. Wie das Rätsel ist das Spiel ein Phänomen der Oberfläche statt der Tiefe, leer und doch in sich vollendet, gesetzlos, aber regelhaft. Das Netzwerk der Spielregeln, je dichter desto verführerischer, fängt diejenigen, die ihm folgen, aus der Zeit ihres Alltags ein und ermöglicht ihnen die Erfahrung einer anderen Zeitform: nicht die Plötzlichkeit der Epiphanie, die ihnen das von der chronologischen Zeit Verborgene offenbart, wie es die deutsche Kunstreligion bevorzugt, sondern die freie Zeit, unbelastet von äußerem Zweck oder tieferem Sinn, ermöglicht durch Regeln, die das Spiel sich selber gibt.
Das alles setzt freilich eine Situation voraus, in der niemand spielen muss, so dass der Ernst des Spiels dem Ernst des Lebens als inwendiger Gegenraum gegenübertreten kann. Die Bedingungen dafür waren die der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft: lebendige Komplementarität von Öffentlichkeit und Privatsphäre, Arbeit und Amüsement, Reich der Zwecke und Reich der Geselligkeit. Es setzt außerdem, mit der vom Druck der Selbsterhaltung temporär entlasteten, durch Rituale, Lieder und eben Spiele in eine Art Zauberkreis gebannten bürgerlichen Kindheit, eine Sphäre voraus, in der gelernt werden kann, was sich im späteren Spiel aktualisiert: die Fähigkeit, nicht nur zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden, sondern beide Sphären auch in ihrer Eigengesetzlichkeit ernst zu nehmen. Das meint nichts anderes als die Freiheit zum Objekt. Wer spielt, dem ist das Spiel kein Zeitvertreib, der vom wirklichen Objekt, sei dies nun die Arbeit oder das eigene Selbst, nur ablenkt, sondern primärer Gegenstand. Und wer miteinander spielt, bezieht sich nicht auf dem Umweg über das Spiel bloß aufeinander, sondern jeder einzeln primär auf das gemeinsame Spiel.
Die unter dem Schlagwort gamification firmierende Tendenz, Elemente des Spiels in alle Formen des gesellschaftlichen Lebens zu implementieren, indem Erziehung, Bildung, Arbeit, Politik, Gesundheit unter den Primat des Spielerischen gestellt werden, beschreibt daher eher einen Exorzismus des Spiels nicht nur aus dem Alltag der Individuen, sondern auch aus ihnen selbst: aus ihrem Selbstverhältnis und ihrer Triebkonstitution. Die spielerische Durchformung aller Gesellschaftsbereiche reflektiert die Neutralisierung des Unterschieds von Privatsphäre und Öffentlichkeit. Wo Freunde und Bekannte immer schon potentielle Projektpartner oder Konkurrenten sind und der immer weiter expandierende Freundeskreis ausschließlich aus Leuten besteht, die einem auf diffuse Weise irgendwann mal nützlich oder gefährlich werden könnten, kann Geselligkeit konstitutionell nicht aufkommen, ebenso wenig Freundlichkeit oder wirkliche Feindschaft. Schließlich muss jeder sich jeden warm und zugleich vom Leibe halten; insofern sind die Totalisierung des Spielens und die Austreibung des spielerischen Moments aus den erotischen Umgangsformen, von Koketterie, Verführung, Ironie, komplementäre Erscheinungen des gleichen Phänomens. Beides steht unter dem Bann eines verbissenen Unernstes, der vom Bewerbungsgespräch bis zur Kneipenbekanntschaft alles durchherrscht. Wo keiner sich über die objektive Nichtigkeit seiner selbst und aller anderen Illusionen macht, aber trotzdem jeder gezwungen ist, die leere Identität seines Selbst um den Preis des gesellschaftlichen Todes zu verteidigen, ist es der größte Stolz der Rumpfsubjekte, nicht mit sich spielen zu lassen, und ihre größte Genugtuung, den beliebigen Nächsten zum Verfügungsmaterial der eigenen Subjektivität zu machen. Dass der Verlierer kein Verlorener und die Angst gebannt sei, gilt in diesem Spiel nicht. Es steht unter dem Gesetz der Angst.