Das Imperium schreckt zurück

Vergangenes Jahr rief Russland mit einigen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken die Eurasische Wirtschaftsunion ins Leben. Von der Vision eines mächtigen Handelsblocks zwischen der EU und China ist nicht viel übrig geblieben.

An magere Bilanzen ist man in Russland gewöhnt. Spätestens seit den Sanktionen, die die EU im Zuge des Ukrainekriegs gegen Russland verhängt hat, und dem weltweiten Ölpreisverfall steht es besonders schlecht um die von Energieexporten abhängige Wirtschaft des Landes. Der Rubel hat erheblich an Wert verloren und die Konsumnachfrage der Russinnen und Russen dürfte dieses Jahr weiter einbrechen. Präsident Wladimir Putin wird wohl angesichts dieser Ausgangslage mit Schmerzen ein erstes Resümee seines Prestigeprojekts Eurasische Wirtschaftsunion (EWU) ziehen, das am 1. Januar 2015 in Kraft trat.
Der Staatenblock zählt neben Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien und Armenien zu seinen Mitgliedern. Aus ihnen entstand ein Markt mit über 170 Millionen Einwohnern. Doch statt neue Impulse für den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu bringen, brach der interne Handel einem Bericht des Nachrichtenportals Eurasianet.org zufolge seit Gründung der Union um 26 Prozent ein. Zehn bis 15 Prozent ihrer Finanzreserven mussten die Länder aufbringen, um ihre schwächelnden Währungen zu stützen. Bis auf das rohstoffreiche Kasachstan, das eine selbstbewusste Außenpolitik verfolgt und mit der EU ein eigenes Partnerschaftsabkommen geschlossen hat, sind alle Teilnehmerstaaten extrem von der russischen Wirtschaft abhängig. Weißrusslands Exporte gehen zu mehr als der Hälfte an den großen Nachbarn, in Armenien und Kirgisien werden strategische Sektoren wie Telekommunikation und Energie von russischen Unternehmen dominiert. Von der Mitgliedschaft in dem neuen Bündnis haben sie kaum profitiert.
Im Gegenteil: Russland hat eigene Einfuhrzölle gegen die Mitgliedsländer verhängt. Mit der Folge, dass 90 Prozent aller Güter, die von außerhalb der EWU importiert werden, sich verteuerten. Kasachinnen und Kasachen etwa, die zuvor günstig eingeführte Kleidung und Elektronik aus dem benachbarten China gewohnt waren, erlebten einen heftigen Preisanstieg. Der Handel mit importierten Gebrauchtwagen aus Westeuropa, Ostasien und den USA kam in Kasachstan auf diese Weise ebenso beinahe vollständig zum Erliegen. Kunden bezahlen mittlerweile mehr für russische Ladas als für japanische Nissans, die sie vor der Gründung der EWU erwarben. Armeniens Exporte nach Russland brachen durch den schwachen Rubel stark ein – und schon kurz nach der Gründung der Union begannen Wirtschaftsvertreter am Sinn des Projektes zu zweifeln. »In den vergangenen Jahren wurde uns eingeredet, dass uns der Markt der EWU-Länder gewaltige Chancen bieten wird und dass wir leichteren Zugang zum russischen Markt bekommen können. Und was sehen wir jetzt? Die selben Schlangen und Probleme an der russischen Grenze. Das Land denkt nur an seine eigenen Unternehmen. Der Rubel wurde so stark entwertet, dass es für uns schlicht unprofitabel ist, dort zu verkaufen. Im Ergebnis sinken unsere Exporte«, erklärte Raffi Mchjian, der Vorsitzende der armenischen Union of Exporters, dem Institute for War and Peace Reporting.
Die EWU wird von den meisten Beobachtern als ein Versuch Russlands betrachtet, den postsowjetischen Raum als Freihandelszone neu zu ordnen. Frühere Projekte, wie etwa die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) oder das Militärbündnis Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS), blieben weitestgehend Papiertiger, aus denen strategisch wichtige Staaten wie Georgien und die Ukraine mittlerweile ausgetreten sind. Das eurasische Projekt hingegen kann auf seine Vorgängerorganisationen bauen: Russland, Weißrussland und Kasachstan gründeten 2006 eine Zollunion, die vier Jahre später in Kraft trat und 2012 im Gemeinsam Wirtschaftsraum aufging. Die Struktur der Union ist sichtbar durch die Institutionen der EU inspiriert. An der Spitze der EWU steht der aus den Staatschefs der Mitglieder bestehende Höchste Eurasische Wirtschaftsrat, der die allgemeinen Ziele und das Budget des Bündnisses verabschiedet. Das Pendant zur EU-Kommission ist die Eurasische Wirtschaftskommission mit ihrem Hauptquartier in Moskau. Als Exekutivorgan verabschiedet sie die wesentlichen Richtlinien. Die 14 Kommissare überwachen dabei Aufgabenbereiche wie Wettbewerb, Energie, Infrastruktur, Industrie und Agrarsektor. Der Gerichtshof der EWU mit Sitz in Minsk soll bei Streitfragen zwischen den Mitgliedern schlichten.
Ein ambitioniertes Projekt – doch die ungleichen Verhältnisse zwischen den Ländern bleiben unübersehbar. Während in der EU eine Konkurrenz zwischen großen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien herrscht, kann dies von der EWU kaum behauptet werden. Russland dominiert das Bündnis wirtschaftlich und aufgrund seiner Bevölkerungszahl. Doch selbst der Hegemon wird in dieser Situation nicht unbedingt Nutznießer sein, analysiert Anders Åslund vom US-Think Tank Atlantic Council: »Russland hat einen künstlich verknappten Markt erhalten. Selbst wenn die EWU ein offener Markt wäre, würden seine Mitglieder nicht notwendigerweise profitieren. Mit lediglich 1,6 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts nach dem derzeitigen Wechselkurs ist er sehr klein, das entspricht einem Zehntel des EU-Markts. Seine Mitglieder sind wirtschaftlich und strukturell zu unterschiedlich, als dass eine Zollunion sinnvoll wäre.« Die EWU blockiere die Modernisierung der russischen Wirtschaft. Das Freihandelsabkommen, das neun GUS-Staaten 2011 unterzeichnet haben und das sich auf Prinzipien der Welthandelsorganisation beruft, wäre nach Åslunds Ansicht eine bessere Alternative gewesen.
Bleibt noch die Frage nach der politischen Dimension der EWU. Russlands Präsident Wladimir Putin betonte mehrfach, dass ihm an einer Wiederbelebung der Sowjetunion nicht gelegen sei. In der Tat sieht es trotz der aggressiven russischen Außenpolitik, unter anderem in Syrien, der Ukraine und Georgien, wenig danach aus, dass die EWU-Mitglieder Russlands Geopolitik vorbehaltlos mittragen. Weißrussland und Kasachstan etwa bekennen sich angesichts der Ereignisse im Donbass zur territorialen Integrität der Ukraine. Auch setzte sich vor allem Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew energisch dafür ein, dass die Mission der EWU strikt auf ökonomische Fragen beschränkt bleibt. Der ursprünglich vorgesehene Name »Eurasische Union« erhielt den Zusatz »Wirtschaft«. Harmonisierte Außenpolitik und Grenzkontrollen sowie die Einführung einer Unionsbürgerschaft wurden ausgeschlossen. Dennoch ist die EWU für Russland ein Mittel, dem Einfluss der Östlichen Partnerschaft der EU entgegenzuwirken. Armenien, das an dem Programm teilnimmt, hat sich 2013 in letzter Minute dagegen entschieden, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Stattdessen erklärte Präsident Sersch Sargsjan mit einer Kehrtwende den Beitritt zur EWU. Der Schritt dürfte als Einlenken Sargsjans gegenüber russischem Druck gewertet werden. Sein Land ist im Konflikt mit dem benachbarten Aserbaidschan erheblich von russischer Militärunterstützung abhängig.
Trotz der bislang wenig überzeugenden Resultate des Handelsblocks hat die russische Regierung noch viel mit der EWU vor. Der stellvertretende Ministerpräsident Igor Schuwalow kündigte 2014 an, dass die EWU innerhalb von fünf bis zehn Jahren eine gemeinsame Währung erhalten werde. Damit sollen die negativen Folgen der Wechselkursschwankungen auf den Handel zwischen den Mitgliedsländern aufgehoben werden. Über Freihandelsverträge redet das Bündnis unter anderem mit Vietnam, Indien, Israel, Iran und Ägypten. Am weitesten vorangeschritten sind indes die Beitrittsverhandlungen mit Tadschikistan. Die Gespräche sind aber derzeit blockiert, weil das Land einen Grenzstreit mit Kirgisien austrägt. Auch ein Vertreter eines ganz anderen Staats äußerte im Juli 2015 begeistert, dass sein Land über die Mitgliedschaft in der EWU verhandele: Syriens Ministerpräsident Wael al-Halqi. »Wir sehen dies als einen Gewinn und eine Stärkung unserer Beziehung zu befreundeten Staaten, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit verbessern wird«, sagte er zu RIA Nowosti.