Mauricio Archila, Historiker, im Gespräch über die Linke und den Friedensprozess in Kolumbien

»Die Zivilgesellschaft muss politischen Druck ausüben«

Der Historiker Mauricio Archila forscht zur Geschichte der kolumbianischen Linken und leitet den Bereich »Soziale Bewegungen« am Forschungs- und Bildungs­institut CINEP in Bogotá. Mit Archila sprach die »Jungle World« über die Herausforderungen für die Linke und den Friedensprozess in Kolumbien.

Die Friedensverhandlungen in Kolumbien sind weit fortgeschritten. Bald wollen die Guerilla Farc und die kolumbianische Regierung den Friedensvertrag zur Beendigung ihres bewaffneten Konflikts unterzeichnen. Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos stellt das Ende des bewaffneten Konflikts oft als Lösung aller Probleme des Landes dar. Was kann mit dem Friedensprozess wirklich erreicht werden?
Vor den Friedensgesprächen von Havanna haben sich beide Seiten auf eine fünf Punkte umfassende Agenda geeinigt, damit die stärkste Guerilla des Landes verhandelt, ihre Waffen niederlegt und als zivile politische Kraft ihre Forderungen und Interessen durchsetzt. Farc und Regierung haben sich beispielsweise auf Maßnahmen zur Stärkung der bäuerlichen Agrarwirtschaft und der politischen Teilhabe geeinigt. Aber was in Havanna nie zur Diskussion stand, waren die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes.
Es ist die Zivilgesellschaft, die politischen Druck ausüben muss, um die in Havanna getroffenen Vereinbarungen in ihrer Umsetzung zu vertiefen, damit die ganz unterschiedlichen Probleme gelöst werden, unter denen die Bevölkerung seit langer Zeit gelitten hat und die in Havanna vielleicht nicht explizit behandelt wurden. Genau deshalb wird es in den kommenden Monaten viele Streiks und Proteste auf der Straße geben. Der Frieden eröffnet Möglichkeiten für die sozialen Bewegungen und er wird einen Prozess in Gang setzen, der sich fortschrittlich und demokratisierend auf die Gesellschaft auswirken wird.
Es ist auffällig, dass ganz verschiedene Gruppen, von weiten Teilen der Linken bis zu Unternehmerverbänden, die Friedensverhandlungen unterstützen, weil sie sich einig sind, dass der bewaffnete Konflikt enden muss. Eine Einigkeit, die so lange besteht, bis es an die konkrete Umsetzung der in Havanna vereinbarten Maßnahmen geht?
Die Regierung Santos versucht mit dem Friedensprozess etwas unmögliches. Sie will Unternehmer ebenso wie die allgemeine Bevölkerung zufriedenzustellen. Das wird schwer werden und in Zukunft sicher Probleme geben, wenn sie sich nicht schon jetzt bereits zeigen, weil die extraktivistische und wachstumsorientierte Politik stärker verfolgt wird, die die Interessen und Rechte der lokalen Bevölkerung, den Umweltschutz und so weiter ignoriert. Es gibt sicherlich viel Konfliktpotential, aber der große Vorteil ist, dass die Konflikte nicht bewaffnet, sondern den zivil und öffentlich ausgetragen werden.
Die Forderung nach sozialen Verbesserungen, Einhaltung von Grundrechten und mehr politischem Einfluss ist in Kolumbien auch immer mit der Gefahr für Leib und Leben verbunden gewesen. Welche Garantien haben die sozialen Bewegungen, dass sich das nun ändert?
Dieses Risiko bleibt bestehen. Denn leider zeigt uns die Geschichte, dass es einen Teil der Elite gibt, der nicht bereit ist, auch nur ein kleines bisschen seiner Macht abzugeben, und daher nach wie vor Führungspersonen der verschiedenen Organisationen ermordet oder ermorden lässt. Dafür gibt es aktuell viele Beispiele, wie die Ermordung von Personen, die im Rahmen des Gesetzes für Opferentschädigung und Landrückgabe ihre Rechte auf Landbesitz geltend gemacht haben. Auch Aktivisten linker Bewegungen wie die Marcha Patriótica oder der Congreso de los Pueblos sowie Gewerkschafter sind einem großen Risiko ausgesetzt. Es geht aber auch eine gewisse Gefahr für bestimmte Gruppen von den Verhandlungsakteuren in Havanna aus.
Warum?
Afrokolumbianische und Indigenenorganisationen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sie und ihre Forderungen bei den Friedensverhandlungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Sie fürchten eine Verletzung ihrer territorialen Autonomierechte, weil sich einige dieser Territorien mit von der Guerilla dominierten Zonen überschneiden.
Zudem teilen die Farc mit der Regierung einige Elemente der bereits erwähnten, auf Entwicklung und Extraktivismus basierenden Politik: ein desarrollismo (Entwicklungspolitik) von links, wie man ihn bei anderen Linksregierungen Lateinamerikas beobachten kann. Ich sage nicht, dass die Guerilla in dieser Hinsicht genauso vorgehen würde wie die Regierung. Sie würde sicherlich Wert auf eine Führungsrolle staatlicher Stellen und öffentlicher Unternehmen legen. Aber es gibt einige ländlich-kleinbäuerliche und indigene Gruppen sowie Umweltorganisationen, die befürchten, dass in Havanna Vereinbarungen getroffen worden sind, die bisher nicht öffentlich gemacht wurden und die die Probleme des Klimawandels und ökologische Aspekte verkennen.
Welchen organisatorischen und strategischen Herausforderungen sehen sich die sozialen Bewegungen nach einer Unterzeichnung des Friedensvertrags gegenüber?
Die Frage wird sein, wie man starke Organisationen aufbaut, die zugleich unabhängig vom Staat, von der Guerilla und den etablierten Parteien sind. Das ist in der Praxis natürlich leichter gesagt als getan, weil es finanzieller Mittel und Strukturen bedarf, mit denen etablierte Akteure locken. Vieles wird auch davon abhängen, wie sich die Farc nach der Demobilisierung in das politische und soziale Geschehen eingliedern, ob sie sich bestehenden Bewegungen anschließen oder eine neue Partei gründen. Der Erfolg des Friedens hängt letztlich davon ab, ob die einmal demobilisierten Farc auch konkrete politische Erfolge erzielen können und eine gewisse politische Relevanz erlangen, auch wenn sie nicht notwendigerweise an die Macht kommen.
Als eine Ursache für die marginale politische Rolle, die die Linke in der Geschichte Kolumbiens gespielt hat, wird oft auf die andauernde Existenz von Guerillaorganisationen verwiesen. Stehen die Chancen der Linken für den Fall eines Friedensschlusses auch mit der kleineren Guerilla ELN nun besser?
Ohne Zweifel. Die Existenz militärisch starker Guerillas hat der legalen Linken sehr viel politischen Raum genommen und diente zugleich als Argument, jegliche sozialen Bewegungen als kommunistisch und letztlich der Guerilla zugehörig zu bezeichnen. Das hat an der Identität der Linken genagt. Sicher ist mit einer Demobilisierung der Farc, und hoffentlich irgendwann der ELN, die Hoffnung verbunden, dass eine besonnene Linke politisches Terrain gewinnen kann. Aber das hängt auch von den Ideen und den Fähigkeiten der Linken im Allgemeinen und den Führungsfiguren der Farc im Besonderen ab.
Inwiefern?
Um es positiv auszudrücken: Mir scheint, dass der Diskurs der Farc-Führer sich im Laufe der Friedensverhandlungen ein wenig verändert hat. Es ist nun nicht mehr dieser geschlossen dogmatische und stalinistische Diskurs einer Guerilla, die in den fünfziger und sechziger Jahren stehengeblieben ist und an den Kalten Krieg erinnert.
Es gibt nun eine Veränderung im Diskurs, eine neue Frische, wenn auch keine vollständige Erneuerung. In ihm scheint eine gewisse Wertschätzung der Demokratie durch, es hat Akte der Entschuldigung gegeben, bei denen die Farc für von ihnen begangene Verbrechen um Verzeihung gebeten haben, auch wenn es natürlich abscheuliche Massaker bleiben. Ein anderes Beispiel ist die Reise der Opfer des bewaffneten Konflikts nach Havanna im Rahmen der Verhandlungen über die Opferentschädigung und die Übergangsjustiz, unter denen sich einige befanden, die scharfe Kritiker der Farc sind. Meiner Meinung nach wären die Farc bei den Friedensverhandlungen von Caguán (1999–2002) noch nicht bereit gewesen, jemanden zu empfangen, der sie offen kritisiert. Kurzum: Es besteht die Möglichkeit, dass die Farc zumindest teilweise die öffentliche Meinung für sich gewinnen. Das wäre zu hoffen. Ebenso, dass sich die alten Fehler der Linken nicht wiederholen.
Welche?
Eine Erneuerung der Linken insgesamt wäre wünschenswert, ihr Diskurs muss lockerer werden. Damit meine ich aber nicht, dass die Linke ihre politischen Ideale aufgeben soll. Und der Kannibalismus in der Linken muss aufhören. Zwar sind die Zeiten der ideologischen Grabenkämpfe zwischen Kommunisten, Maoisten, Trotzkisten und so weiter vorbei, doch gewisse Dogmen haben überlebt. Es wäre wünschenswert, wenn es in Zukunft mehr Allianzen und Vereinbarungen innerhalb der Linken gibt. Camilo Torres (1929–1966, kolumbianischer Befreiungstheologe und Mitglied der ELN, Anm. d. Red.) sagte: »Sprechen wir über das, was uns eint, und nicht über das, was uns entzweit.«