Failed State Kreuzberg

In der Debatte über die Zustände am Kottbusser Tor läuft einiges schief. Dabei geht es weniger um erhöhte Polizeipräsenz, als um die Veränderungen im Kiez und die Frage, wer sie verursacht habe.

Am Anfang eines typischen Gesprächs über die Zustände am Berliner Kottbusser Tor steht immer ein Bericht über einen selbst oder von Freunden erlebten Taschendiebstahl, einen Raubüberfall oder eine Messerstecherei. Als Reaktion darauf kommt entweder das Entsetzen darüber, »was aus unserem Kotti geworden ist«, oder die mit dem Totschlagargument beginnende Gegenrede: »Ich wohne seit Jahren im Kiez und mir ist noch nie etwas passiert.« Welche dieser Darstellungen ist nun die richtige? Keine natürlich, beide geben ein subjektives Sicherheitsempfinden wieder. In der seit etwa einem Jahr geführten Debatte um die Zunahme der Kriminalität rund um das Kottbusser Tor lässt sich feststellen: Die Wahrnehmung dessen, was sich dort täglich und vor allem nächtlich abspielt, könnte nicht widersprüchlicher sein. Das liegt an der seit der Kölner Silvesternacht zweifellos hysterischer gewordenen Berichterstattung über »kriminelle Brennpunkte«, wobei der Fokus meist auf den »kriminellen Ausländern« liegt. Ein weiterer Grund ist, dass Kreuzberg, insbesondere dieses Fleckchen zwischen Oranien- und Skalitzer Straße bis hin zum Halleschen Tor, mehr als ein Kiez ist: Kotti ist ein Statement.
Auch in dieser Zeitung erschien vor wenigen Wochen eine Reportage über das Kottbusser Tor, die in einigen Kreisen für Aufsehen sorgte. Insbesondere die nicht von der Autorin, sondern von der Redaktion stammende, freilich etwas reißerische Bezeichnung »No-Go-Area« geriet ins Visier der Kritiker, neben der Einschätzung, Anwohner und Gewerbetreibende fühlten sich »vom Staat allein gelassen«. Damit wurde anscheinend so etwas wie ein linkes Tabu gebrochen. Die Behauptung, in Kreuzberg solle der Staat, sprich die Polizei, handeln, dürfe nicht in einer linken Zeitung stehen, genauso wenig wie die als einseitig empfundene Perspektive von Gewerbetreibenden, Anwohnern, Opfern von Überfällen sowie von den Schlimmsten von allen: der Polizei. Das entnahmen wir zumindest den vielen empörten Facebook-Kommentaren. Offensichtlich erwartet man von einer linken Zeitung, dass sie den Taschendieb oder den jungen Messerstecher, die gerade nach Opfern suchen, um ein kurzes Interview bitte.
Wer über Kreuzberg reden und was gesagt werden darf, zeigte Anfang März die öffentliche Veranstaltung »Kippt der Kotti?« im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum. Der Migrationsforscher und Autor Mark Terkessidis, der mit anderen auf dem Podium saß, wurde von Leuten aus dem Publikum immer wieder ausgebuht, »Hetzer« und »Rassist« genannt. Sein Verbrechen: Im Januar hatte er im Tagesspiegel einen Kommentar geschrieben, in dem er die Stimmung in Kreuzberg mit der Kölner Silversternacht verglich. Im Artikel schreibt er: »Die meisten der in diesem Artikel aufgezählten Taten wurden offensichtlich von Leuten begangen, die süd- oder nordafrikanischer Herkunft sind.« Ob Terkessidis in seiner Darstellung die Lage möglicherweise etwas dramatisiert hat, sei dahin gestellt, es war dieser Satz, der ihn in den Augen vieler linker Bescheidwisser zum üblen Rassisten machte.
Für einen gewissen Teil der Linken, der die realen Gefahren für den »Kiez-zusammenhalt« ausschließlich in Gentrifizierung, Partytourismus und ökonomischer Aufwertung sieht, scheint die Herkunft der Täter in dieser Debatte ohnehin eine größere Rolle zu spielen als für die potentiellen oder realen Opfern von Gewalttaten. Ähnlich wie nach der Silversternacht stellt sich auch hier die Frage, welche Relevanz die Herkunft der Täter hat, abgesehen davon, dass sie für die eigene Profilierung als Antirassistin oder Antirassist herhalten muss. Stellt man diese Frage, landet man schnell beim Kapitalismus, der an allem schuld sei und bei Diskussionen, in denen Taschendiebstahl als Eigentumsdelikt »gegen die reichen Bonzen« verklärt wird. Für die Brutalisierung der Verhältnisse im Kiez werden dann die besserverdienenden »Zugezogenen« verantwortlich gemacht, die mit ihren teuren, renovierten Wohnungen die Gegend attraktiver, ergo unsicher gemacht hätten.
Wer sich für die Stärkung von »solidarischen Strukturen« im Kiez ausspricht, könnte sich vielleicht neben der Frage nach der Herkunft der Täter und dem Anprangern rassistischer Zuschreibungen auch die Frage stellen, wo diese Kiezsolidarität bleibt, wenn Schwule zwischen Südblock und Möbel-Olfe zum Opfer einer Verfolgungsjagd werden oder Frauen immer mal wieder belästigt werden.
»Brauchen wir mehr Polizei oder können wir die ›Selbstheilungskräfte‹ des Kiezes mobilisieren?« lautete die Frage bei der Diskussion im Kreuzberg Museum. Solange mehr Verständnis für die soziale Lage gewalttätig agierender Bandenkrimineller als für den überfallenen und beklauten Partytouristen, die sexuell belästigte Passantin oder den zu Recht um seine Umsätze fürchtenden Barbetreiber da ist, wird man nach einem Samstagabend am Kotti, wenn man Pech hat, auf andere Heilungskräfte angewiesen sein: die vom Urban-Krankenhaus.