Jung und belastet

In »Glückskind mit Vater« versucht Christoph Hein, die Nationalgeschichte nach 1945 mit den Mitteln des Entwicklungsromans zu beschreiben.

Man sollte dieser Tage Christoph Heins Artikel »Eure Freiheit ist unser Auftrag« wieder lesen. 1991 im Spiegel erschienen, zeigt der Kommentar, dass Ausländerhass nicht schlicht die Folge eines Mangels an Aufklärung ist, sondern die Konsequenz einer in sich verhinderten Emanzipation, Modell einer Dialektik der Aufklärung. Hein gilt auch aufgrund seiner umsichtigen Artikel und Essays als politisch integere Persönlichkeit. Der 1944 geborene Dramatiker und Schriftsteller engagierte sich in der DDR gegen Polizeigewalt und sprach am 4. November 1989 auf der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er mit seiner Novelle »Der fremde Freund« (1982) bekannt, die in der BRD unter dem Titel »Drachenblut« erschien. Seitdem wurde er mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
In seinem dieser Tage erschienenen Roman »Glückskind mit Vater« unternimmt Hein den Versuch, die Geschichte der DDR und des postnazistischen Deutschlands anhand des Lebenslaufs von Konstantin Boggosch zu erzählen, dem Protagonisten der Erzählung. Ein solches Vorhaben bringt mehrere Probleme mit sich. Eine Masse von historischem Stoff muss mit einer Hauptfigur bewältigt werden, deren Auseinandersetzung mit der Welt wiederum geschichtliche Tendenzen verkörpern muss. Doch lässt sich kaum ungebrochen über die Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, wie es die erzählte Lebensgeschichte einer Figur von der Geburt bis zum Tod suggerieren mag. Zwischen den gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen und der individuellen Biographie liegt eine Kluft, die literarisch nicht zu verdecken, sondern zu beschreiben ist. Nur reichen die tradierten Kategorien des Entwicklungsromans dafür nicht aus und darin dürfte das Scheitern des Romans von Hein angelegt sein.
Die Hauptfigur Konstantin Boggosch ist ein Glückskind. Das sagt seine Mutter, weil das Kind in ihrem Bauch sie vor der Verhaftung durch russische Soldaten im Mai 1945 bewahrt. Von einer Arrestierung war sie bedroht, weil es sich bei ihr um »Frau Gerhard Müller« handelte, wie es der Offizier der Roten Armee ausdrückt. Gerhard Müller war Besitzer einer Fabrik, für deren Betrieb er ein KZ errichten ließ, war Mitglied der ­NSDAP und der SS und wurde 1945 in Polen wegen Kriegsverbrechen hingerichtet. Als die Mutter von den Machenschaften ihres Mannes erfährt, legt sie den Namen Müller ab. Sich und ihre beiden Söhne Gunt­hard und Konstantin nennt sie fortan bei ihrem Mädchennamen Boggosch. Der Vater sei im Krieg gefallen, sagt sie und lässt ihre Kinder im Unklaren. Doch in dem kleinen Ort wissen viele Bescheid, auch wenn geschwiegen wird. So hat Konstantin seine Kindheit über den Eindruck, dass alle Menschen im Ort Kenntnis von etwas haben, das ihm verschwiegen wird.
Gunthard, der ältere Bruder, gerät unter den Einfluss des Onkels Richard, der sich als Miteigentümer und Leiter der Fabrik nach München abgesetzt und vor einem Göttinger Gericht Gerhard Müllers Ruf als ehrbarer Soldat wiederhergestellt hat. Gunthard ist stolz auf seinen Vater, während Konstantin unter dessen berüchtigter Berühmtheit leidet. Mit der antifaschistischen Staatsdoktrin der jungen DDR gibt es fortwährend Konflikte. Der Besuch einer weiterführenden Schule ist für den Sohn eines führenden Nazis, trotz exzellenter schulischer Leistungen, ausgeschlossen. »Es brachte mich zur Verzweiflung, weil schon wieder mein gefürchteter, mein gehasster Vater vor mir stand und alles vernichtete, was ich mir aufzubauen suchte.« Der psychologische Grundkonflikt des Romans ist hiermit angelegt: Der übermächtige Nazivater, die Vergangenheit, lastet auf dem jungen deutschen Mann.
Mit 14 Jahren flieht er über die BRD nach Frankreich und arbeitet dort in einem Antiquariat und als Übersetzer. Er lernt eine Gruppe von ehemaligen Résistance-Kämpfern kennen, die sich ihm gegenüber außerordentlich wohlwollend verhalten. Doch als er erfährt, dass einer der Männer wohl in einem Gefangenenlager von seinem Vater gequält worden ist, verschwindet er, ohne seine Gründe zu erklären. Die Schande ist so groß, dass er nicht darüber reden könne, suggeriert der Roman. Er kehrt zurück in die DDR, dort wird er immer wieder mit seinem Vater konfrontiert. Eine Aufnahme an der Filmhochschule scheitert, allerdings bleibt ihm auch der Wehrdienst in der NVA wegen »Unwürdigkeit« erspart. Der psychologische Konflikt wird kaum variiert, der Vater, die Vergangenheit, plagt ihn, ist aber als solche abgeschlossen.
In diesem Aufbau, der Identifikation von dem Vater und der Vergangenheit des Nationalsozialismus, in der Identifikation von Psychologie und Gesellschaftsgeschichte, liegt der Konstruktionsfehler des Romans. Das Fortwirken des Nationalsozialismus in der Geschichte und im Bewusstsein ist nicht Thema der Handlung, sondern allein die belastende Wirkung auf den vitalen Jungdeutschen Konstantin. Das wird vollends fragwürdig, wenn ihm seine Frau in Bezug auf den Vater versichert: »Du bist nicht sein Sohn, du bist sein letztes Opfer.« Oder als Boggosch über sein kurz nach der Geburt verstorbenes Kind nachdenkt und zu dem Schluss kommt, dass er kein Kind in die Welt setzen solle, weil sie mit der Erblast der Schuld befangen sei: »Bei jedem Spiel, bei jeder Party, jedem Rendezvous würde Gerhard Müller erscheinen und sie an ihn erinnern, mit seinen Verbrechen ihr den Lebensmut und jede Freude zerstören. In der Schule würde sie mit ihren Kameradinnen ›Das Tagebuch der Anne Frank‹ lesen, alle würden sich in das in einem Versteck lebende Mädchen einfühlen und weinen, nur meiner Tochter wäre es verwehrt, mit dieser Anne mitzufühlen und mitzuleiden, sie hätte auf der anderen Seite zu stehen, bei den Mördern, bei ihrem Großvater.«
An dieser Passage ist allerlei verräterisch. Wer verwehrt der Tochter die Empathie mit den Opfern des Nationalsozialismus? Und wohin soll die authentische Einfühlung führen? Zur Identifikation mit den Opfern? Hein folgt hier der in den vergangenen Jahren im Literaturbetrieb ebenso fatalen wie populären Idee, dass es sich bei der Schuld des Nationalsozialismus um eine biologisch vererbbare psychologische Konstante handle. Das aber verharmlost die Gesellschaftsgeschichte und deren negatives Extrem, den Nationalsozialismus, zum psychologischen Kammerspiel. Dass der Nationalsozialismus auch heute noch die Aufgabe stellt, aus der Barbarei sich herauszuarbeiten, wie Theodor W. Adorno es formulierte, bleibt im Bereich der Selbsterkundung und -erfahrung und damit der vorpolitischen Betroffenheit. Daran ändert auch die gelungene Wendung im Buch nichts, als nach der sogenannten Wiedervereinigung und Restauration der Rechtsansprüche der Grundbesitzer die Fabrik in die Hände des Bruders Gunthard gerät, der auf dem Gelände des ehemaligen betriebseigenen KZs einen Ausbau des Stammgebäudes vornehmen lässt.
Sprachlich vermag Hein in »Glückskind mit Vater« nicht an das Niveau voriger Romane anzuknüpfen. Oftmals verlieren sich Beschreibungen in Wiederholungen oder Ähnlichkeiten. Der letzte Teil ist im Vergleich zur Beschreibung der Kindheit und Jugend sehr kurz und wirkt überhastet geschrieben. Das ist bedauerlich, vor allem weil »Frau Paula Trousseau« (2007), die Geschichte der missglückten Emanzipation einer Künstlerin in der DDR, und »Weiskerns Nachlass« (2011), die Beschreibung eines scheiternden Universitätsgelehrten, zur besten Prosa gehört, die in den vergangenen Jahren in deutscher Sprache verfasst wurde. Mit klarer, verdichteter Sprache und sanfter Ironie hatte Hein den Entwicklungsroman an seine Grenze geführt; der Versuch, diese Gattung zur Beschreibung der Nationalgeschichte nach 1945 zu nutzen, muss hingegen als misslungen erachtet werden.
Christoph Hein: Glückskind mit Vater. ­Berlin 2016, Suhrkamp, 527 Seiten, 22,95 Euro