Neopuritanisches Moralgebimmel

Ein hysterischer Medien- und Funktionärsmob will aus dem »Problemprofi« (»FAZ«) Max Kruse einen stromlinienförmigen modernen Fußballer machen.

Wer die Medienberichterstattung der vergangenen Tage über Max Kruse verfolgt hat, könnte den Eindruck gewinnen, in Deutschland regiere bereits der »Islamische Staat« und man lebe in einem strengen Kalifat. Im Tonfall moralinsauren Tadels hielt man dem VfL-Wolfsburg-Spieler vor, sich frecherweise wie ein junger Mensch mit ausreichend Taschengeld verhalten zu haben, statt dem wohl verlangten Mönchsideal deutscher Sportler zu entsprechen, also früh zu Bett zu gehen, freundlich und bescheiden zu sein, gesund zu essen, kein nennenswertes Sexualleben zu haben und vor allem immer schön naturburschig zu lächeln. Und was macht Kruse? Geht zu Pokerrunden und tanzt in Berliner Clubs. Um zwei Uhr morgens! Trinkt dabei vielleicht sogar Alkohol! Und statt für eine Berufsstalkerin von Bild, die seine Abweichungen von der Sportlernorm bildlich festhalten will, willig zu posieren, streitet er mit ihr, nimmt ihr kurzerhand das Handy weg und löscht die Bilder. Er lässt, Horrorvorstellung deutscher Kontrollfreaks, sehr viel Geld in einem Taxi liegen. Und dann taucht auch noch ein Video auf, das Kruse bei »sexuellen Handlungen« zeigt, wie sport1.de im Jargon eines Polizeiberichts aus den achtziger Jahren schreibt. Skan-da-lös!
Entsprechend fielen die Kommentare und Berichte der medialen Sittenwächter aus. Der »Problemprofi«, meint die FAZ, müsse »dringend klären, was er sich privat erlauben kann«. Die Münchner Tz richtet Kruse den Kalenderspruch aus, dass wer nicht hören wolle, eben fühlen müsse, denn obwohl die Tz Kruse großzügig zugesteht, dass »auch ein Fußballer ein Recht auf Privatsphäre« habe, hat er eigentlich keine, denn: »Genauso besitzt er auch eine Vorbildfunktion«. Im Gegensatz zu Journalisten, die Deutsch allenfalls ausreichend beherrschen, möchte man da ergänzen. Die Süddeutsche schreibt onkelhaft von einer »Menge kleinerer und größerer Verfehlungen« und warnt Kruse wie einen Teenager, der ein Wochenende in der großen Stadt verbringen will, vor »Menschen, die nicht nur sein Wohlergehen im Sinn haben«.
Angesichts des neopuritanischen Moralgebimmels meinte Joachim Löw, den obersten Erzieher raushängen lassen zu müssen, und kickte Kruse wenigstens vorübergehend aus dem DFB-Kader, da der Spieler sich »unprofessionell verhalten« habe. Und Wolfsburg-Manager Klaus Allofs gab den öffentlichen Warnschuss ab: »Max Kruse muss wissen, dass er seinen persönlichen Ruf und seine Karriere unnötig gefährdet.« Jetzt ist der arme Kruse auf Bewährung und erst wenn er sich den strengen Benimmregeln der Nobelsportart Fußball unterwirft, darf er wieder mitspielen. Löw im Spiegel: »Ich werde weiterhin beobachten, was auf und neben dem Platz passiert.« Falls Kruse nicht mehr unangenehm auffalle, werde man über seine Rückkehr in die Nationalelf sprechen können.
Keine disziplinarischen Konsequenzen und nicht mal annähernd so viel Rüge seitens der Sportpresse gab es für Marco Reus, der verkehrsgefährdend ohne Führerschein durch die Gegend gurkte. Liegt das womöglich daran, dass derlei vor allem im ländlichen Raum nicht unüblich ist, also eine eher volkstümliche Verfehlung im Gegensatz zu Clubbing, Poker und Sexvideos? Das erscheint unwahrscheinlich in Zeiten, in denen sich längst auch die Meiers von nebenan einen Kick davon holen, sich beim Schnackseln zu filmen und das dabei entstandene Filmmaterial ins Internet zu stellen, Pokern seit den neunziger Jahren gesellschaftsfähig geworden ist und fast jeder Mensch zwischen 15 und 30 Jahren wenigstens wochenends unter dem Einfluss verschiedenster Drogen die Zappelhütten der Republik aufsucht. Die strengere Behandlung Kruses dürfte eher mit dessen wiederholten Verstößen gegen die deutschen Sekundärtugenden zu tun haben, die zu besitzen in diesem Land immer noch als ganz großartige Sache gilt und nicht etwa als längst überholte Relikte einer autoritären Gesellschaft. Leider entwickelt sich Deutschland und mit ihm auch der Rest Europas im Hinblick darauf eher zurück.
Den völlig übertriebenen Reaktionen auf Kruses in Wirklichkeit harmlose Vergnügungen dürften ganz andere Motive zugrunde liegen als die Sorge um seinen Ruf oder seine Verlässlichkeit. Was aus vielen Kommentaren und Wortmeldungen herauslesbar ist, ist die Angst, da könne einer seinen Marktwert schmälern, was ja inzwischen die größte denkbare Sünde wider den Verwertungszwang ist. Eine Sünde, die umso schwerer wiegt, je nachdrücklicher man vom Sünder verlangt, er habe gefälligst eine »Vorbildfunktion« auszuüben. Die Furcht, das Proletariat könnte seine Funktionsfähigkeit als Humankapital mutwillig beschädigen, sitzt tief in den Köpfen der deutschen Führungsschicht, was nicht nur die immer mehr zur absurden Bevormundung der Bürger mutierenden gesundheitspolitischen Ge- und Verbote zeigen, sondern wohl auch die Skandalisierung von Kruses ganz normalem Verhalten, das bislang niemanden schädigte außer die Heuchler, die absichtlich auf einen der besten Mittelfeldspieler Europas verzichten wollen, um ihre Moralvorstellungen durchzusetzen. Es reicht die Befürchtung, ein Fußballstar könnte allzu weit vom engen Pfad des tugendhaften Lebens abweichen, und schon werden aus Sportfunktionären und Journalisten lauter Helen Lovejoys, die atemlos »denkt denn keiner an die Kinder« rufen.
Ein wenig erinnert die Kruse-Hysterie an eine Groteske, die sich 1997 in Österreich zutrug. Der Skispringer Andreas Goldberger, der mit seiner verschmitzten Bubenhaftigkeit und ostentativer Provinzialität der Liebling der Boulevardpresse war, geriet in den Verdacht, in einem Wiener Club gekokst zu haben. In einer Sondersendung des österreichischen Fernsehens musste sich Goldberger einer vom früheren Wiener Bürgermeister Helmut Zilk angeführten Altherren-Runde stellen, deren inquisitorisches Gehabe schließlich in Zilks Forderung gipfelte, Goldberger solle sich live im Fernsehen eine Haarlocke abschneiden und ihm, Zilk, übergeben, auf dass er sie auf Kokainrückstände untersuchen lassen könne. Der Wintersport-Star lehnte verlegen ab, gestand aber ein paar Monate später, doch mal seine Nase über den Löffel gehalten zu haben, was zu einer sechsmonatigen Sperre durch den Skisportverband führte. Für Insider wirkte die Empörung der Politiker, Funktionäre und Journalisten bizarr, denn dass diese Leute selber gerne mal eine Line zogen, war durchaus bekannt.
Die nun von etlichen deutschen Medien geforderte Zähmung des widerspenstigen Max Kruse erscheint wie eine weitere Fortsetzung der Schmierenkomödie, die um das Privatleben von Profisportlern inszeniert wird. In dieser Schmiere haben alle ihre Rolle. Der gefallene Held wird zuerst durch die Problematisierung harmloser Privatvergnügen zu einem solchen gemacht, aber es wäre nicht Deutschland, würde man einem Menschen, den man zuvor durch den Fleischwolf der Verurteilung durch die pseudomoralische yellow press gedreht hat, nicht höchst pädagogisch wieder eine Rückkehr in den Schoß braver Bürgerlichkeit in Aussicht stellen, vorausgesetzt der Mensch ist bereit, die erwarteten Unterwerfungsgesten zu vollziehen.