Frankreich setzt weiter auf Atomenergie

Von Cattenom bis Fessenheim

Die Umweltskandale der französischen Atomindustrie häufen sich. Dennoch sollen die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert werden. Sogar Neubauten sind geplant.

Die französische Atomindustrie ist immer wieder für höchst beunruhigende Nachrichten gut. Eine davon lautet, dass – wie vergangene Woche der Öffentlichkeit bekannt wurde – hochgiftiges und hochradioaktives Plutonium seit 36 Jahren im Sediment auf dem Flussboden der Loire schlummert. Dies ergibt sich aus Messungen des Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN), die seit Juli 2015 vorgenommen wurden. Im April 1980 war ein Brennstoffbehälter im Atomkraftwerk (AKW) Saint-Laurent-des-Eaux gerissen und stark verstrahlte, radioaktive Substanzen enthaltende Abwässer waren in die nahe Loire gespült worden. Zuvor war es dort im Oktober 1969 und im März 1980 zu Atom­unfällen gekommen, bei denen Brennelemente geschmolzen waren.
Die mit 58 laufenden Reaktorblöcken gigantisch aufgeblähte französische Nuklearindustrie produziert derzeit 63,2 Gigawatt Strom und hält einen Anteil an der nationalen Elektrizitätserzeugung von rund 75 Prozent. Gemäß dem »Gesetz für den energiepolitischen Übergang«, das im vergangenen Jahr verabschiedet wurde, soll der Anteil durch den Ausbau erneuerbarer Energien bis zum Jahr 2025 auf 50 Prozent sinken, die Stromproduktion der AKW in absoluten Zahlen soll jedoch konstant bleiben. Konkret bedeutet das, dass bis 2025 zwei Reaktorblöcke stillgelegt werden sollen, falls der neue Reaktor vom Typ EPR (Europäischer Druckwasserreaktor) im normannischen Flamanville wie geplant ans Netz geht. Dessen Inbetriebnahme war ursprünglich für 2012 geplant, wurde jedoch durch Pleiten, Pech und Pannen immer wieder verzögert und ist nun offiziell für Anfang 2018 vorgesehen. Am Osterwochenende verkündete der Betreiber EDF, die EPR-Baustelle habe »entscheidende Hürden genommen«.
Unterdessen kündigte Umwelt-, Energie- und Transportministerin Ségolène Royal am 28. Februar offiziell an, was sie nach Angaben des Generaldirektors des AKW-Betreibers EDF (Electricité de France), Jean-Bernard Lévy, diesem bereits Mitte Februar zugesichert hatte: Die maximale Laufzeit der Atomreaktoren, im Französischen liebevoll als ihre »Lebensdauer« bezeichnet, soll von bislang 40 auf 50 Jahre verlängert werden. Lévy sprach sogar von »50 oder 60 Jahren«, die Ministerin beließ es in ihren Worten bei der ersten Variante. Voraussetzung dafür ist, dass die Aufsichtsbehörde für die Reaktorsicherheit (ASN) eine Genehmigung erteilt, diese will sich aber erst 2018 äußern.
Man hätte erwarten können, dass die frisch in die Regierung eingetretenen Vertreter der Grünen lautstark protestieren. Bei der jüngsten Kabinettsumbildung vom 11. Februar waren drei ehemalige Prominente der Ökopartei nach zweijähriger Abwesenheit der Grünen aus der Regierung zurückgekehrt. Zwei von ihnen sind allerdings Rechtsabweichler, die aus der Partei Europe Écologie-Les Verts (EE-LV) ausgetreten waren, weil sie ihr nicht verzeihen konnten, dass sie Präsident François Hollande so unschön kritisiere. Einer von beiden ist Jean-Vincent Placé, über den die Presse seit Jahren durchblicken ließ, dass sein einziges Lebensziel darin bestehe, irgendwann einmal Minister zu werden. Die dritte neue Ministerin aus diesem Bereich, Emmanuelle Cosse, war allerdings bis zu ihrem Regierungseintritt noch Parteivorsitzende von EE-LV, auch wenn sie gegen deren Mehrheitswillen ins Kabinett wechselte.
Placé reagierte auf die Ankündigung der Laufzeitverlängerung mit Abwiegeln. Die Entscheidung sei nicht so schlimm, merkte er an, weil sie wegen »des Realitätsprinzips« ohnehin nicht zum Tragen komme: Eine Wartung der ältesten Reaktoren komme für die EDF doch viel zu teuer, weswegen der Betreiber selbst aus finanziellen Gründen davon Abstand nehmen werde, prognostizierte Placé.
Cosse wählte einen anderen Weg zur Profilierung. Sie verkündete, Präsident Hollande habe ihr zugesichert, dass das AKW im elsässischen Fessenheim noch in diesem Jahr stillgelegt werde, also vor dem Wahljahr 2017 mit seinem möglichen Mehrheitswechsel. Dies würde einem vor vier Jahren gegebenen Wahlkampfversprechen Hollandes entsprechen. Allerdings korrigierte die zuständige Ministerin Royal ihre grüne Regierungskollegin umgehend. Was 2016 beginne, sei ein »Verfahren zur Abschaltung«, das sich Royal zufolge jedoch gut zwei Jahre hinziehen werde.
Anfang März hatten die Süddeutsche Zeitung und der WDR berichtet, ein Störfall vom April 2014 in Fessenheim sei gravierender gewesen als bislang angegeben. Einer der beiden Kühlwasserkreisläufe war damals dort ausgefallen. Daraufhin war offenbar Bor zugeführt worden, das bei der Notabschaltung einer Atomanlage zur Absorption von Neutronen verwendet wird. Die Anlage sei zuvor quasi »blind gefahren« worden, da sie auf Steuerungsversuche nicht mehr reagierte.
Weitere französische Atomanlagen sind nicht nur der Anti-AKW-Bewegung, sondern auch den Nachbarländern, an deren Grenzen sie errichtet wurden, ein Dorn im Auge. Der Schweizer Kanton Genf kündigte Anfang März eine Strafanzeige gegen das seit 37 Jahren im Betrieb befindliche AKW im ostfranzösischen Bugey an. Es gefährde die Bevölkerung im 70 Kilometer entfernten Genf und leite ferner Kühlwasser in den dortigen See ab.
Die deutschen Grünen, deren Europaparlamentsfraktion einen Untersuchungsbericht des Nuklearingenieurs und Professors Manfred Mertins veröffentlichte, aber auch die luxemburgische Regierung fordern dringlich eine Stilllegung des ebenfalls seit 37 Jahren laufenden AKWs in Cattenom. Das Infrastrukturministerium von Luxemburg kündigte an, die EU-Kommission einzuschalten sowie »juristische Mittel« gegen dessen Weiterbetrieb einzulegen.
Unterdessen begann die EDF eine als grand carénage (große Auskleidung) bezeichnete Operation zur Modernisierung oder Überholung ihrer älteren AKW, um sich auf die Laufzeitverlängerung vorzubereiten. In Paluel bei Rouen etwa wurde Mitte März bekannt, dass entsprechende Arbeiten im dortigen AKW umgehend beginnen sollen. Doch die EDF hatte die seit Mai vorigen Jahres dort vorgenommenen Untersuchungen an der Anlage in keiner Weise ausgewertet, und eine Anti-AKW-Initiative aus der Normandie forderte deswegen einen »sofortigen Stopp des Carénage-Programms«.
Die von Jean-Vincent Placé geäußerte Hoffnung, der Markt und Kostenfaktoren würden die Fortsetzung der AKW-Politik – dank derer Frankreich vor allem im Atom-Exportgeschäft von Marokko über Saudi-Arabien bis China führend bleiben möchte – schon beenden, erfüllt sich offensichtlich nicht. Am 6. März trat der bisherige Finanzdirektor der EDF, Thomas Piquemal, zurück, weil in seinen Augen das Projekt des Neubaus eines Atomkraftwerks vom Typ EPR im britischen Hinkley Point völlig überdimensioniert und ökonomisch unverantwortlich sei. Es soll nach bisherigen Plänen 23,2 Milliarden Euro kosten und wird vom chinesischen Nuklearkonzern CGM kofinanziert.
Doch die Spitze des Unternehmens hält an dem Vorhaben eisern fest und der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron versprach am 22. März, notfalls werde der Staat sich an einer Kapitalaufstockung bei der EDF beteiligen, um dem Betreiber zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Derzeit hält der französische Staat 85 Prozent der Anteile an der EDF.