Der Südosten der Türkei ist zum Krisengebiet geworden. Die Regierung hat dazu beigetragen

Bombenstimmung am Bosporus

Die PKK und der »Islamische Staat« werden international als alleinige Urheber von Terroranschlägen gesehen. Die Türkei ist davon in großem Maße betroffen. Stimmen aus der Region bestätigen den Eindruck, dass auch die türkische Regierung an der Eskalation der Konflikte entscheidend mitwirkt.

Çağlar Demir wirkt erschöpft. Die zweite Fraktionsvorsitzende der prokurdischen »Demokratiepartei des Volkes« (HDP) sitzt in ihrem Büro nahe der Altstadt von Diyarbakır. Momentan verbringt sie mehr Zeit in ihrem Wahlkreis als in Ankara. Der gesamte Südosten der Türkei hat sich innerhalb eines halben Jahres von einer prosperierenden Region in ein Krisengebiet verwandelt. Sur, ein Teil der historischen Altstadt, wurde in den vergangenen Jahren von der HDP-Stadtverwaltung restauriert. Erst vor zwei Wochen wurde die Ausgangssperre aufgehoben, bei heftigen Kämpfen wurden viele historische Gebäude zerstört. Vor einer Woche verkündete die Regierung, ein Großteil der Altstadt werde ab sofort verstaatlicht. »Sie wollen die Demokratie abschaffen und suchen Gründe dafür«, betont die kurdische Politikerin.
Seit mehreren Wochen reist Demir mit Delegationen in Zentren der HDP, in denen ein Bürgerkrieg entstanden ist. Die Konflikte verlaufen stets nach dem gleichen Muster. Die Regierung lässt beliebte Lokalpolitiker der HDP festnehmen oder unter Vorwänden des Amtes entheben. Dann kommt es zu Demonstrationen. Die Polizei reagiert mit scharfer Munition und Verhaftungen, der Konflikt eskaliert, Jugendliche heben Gräben aus und errichten Barrikaden. Sobald ein paar von ihnen im ungleichen Straßenkampf getötet werden, mobilisiert die PKK Kämpfer aus ihren Reihen zur »Verteidigung des Volkes«, daraufhin wird die Auseinandersetzung zu einem Kampf zwischen PKK und Polizei und Militär. Die Opfer sind allerdings überproportional Zivilisten. Über hundert Kinder wurden in den vergangenen Monaten getötet. In einem vom Militär angegriffenen Haus in Cizre hatten sich vor allem nichtmilitante HDP-Anhänger verborgen, die eine Woche lang per Mobiltelefon vergeblich um medizinische Versorgung gebeten hatten. Mittlerweile wurden aus den Trümmern des Hauses 23 Leichen geborgen. Der Konflikt begann in Cizre und Silvan und breitete sich dann langsam aus. Dem vorausgegangen waren brutale Anschläge auf Anhänger der prokurdischen Bewegung. »Die Barrikaden sind kein Auslöser, sondern ein Symptom des Terrors«, betont Cağlar Demir.
Die Wirklichkeit, Teil eines Krisengebietes zu sein, hat auch die türkischen Großstädte eingeholt. Der kurdisch-deutsche Maler Mahmut Celayır hat ein Atelier in der Nähe des Galata-Turmes im Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu. Der İstiklâl-Boulevard, Schauplatz des jüngsten Selbstmordattentates des »Islamischen Staates« (IS) am 19. März, liegt nur zehn Minuten Fußweg entfernt. Nach 14 Jahren in Deutschland verlegte Celayır 2010 seinen Lebensmittelpunkt nach Istanbul. Er konstatiert, dass sich die politische Situation seit dem vergangenen Jahr in der Türkei grundsätzlich verändert hat. Nach einer Periode des Friedens im Kurdenkonflikt begann kurz vor den Parlamentswahlen 2015 eine verhängnisvolle Reihe von Selbstmordattentaten. »Die PKK hat in der Vergangenheit sehr viele Fehler gemacht. Die momentanen Anschläge zeigen aber ein ganz anderes Muster. Meist treffen sie Oppositionelle, ja Freunde der kurdischen Bewegung, oder harmlose Zivilisten.«
Bülent Mumay war bis Anfang des Jahres Chefredakteur des Online-Portals der einflussreichen Tageszeitung Hürriyet. Seine Weigerung, sich dem üblichen Veröffentlichungsverbot nach Anschlägen zu beugen, kostete ihn seinen Job. Nach den Wahlen am 6. Juni 2015 hatte die türkische Regierung die Friedensgespräche mit den Kurden abrupt abgebrochen und Stellungen der PKK im Nordirak bombardiert. Damit endete ein seit 2013 bestehender Waffenstillstand. Verhaftungen von kurdischen Politikern lösten mit Gewalt niedergeschlagene Demonstrationen in den Kurdengebieten aus. Der HDP war es bei den Wahlen erstmalig gelungen, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden, die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verlor damit die absolute Mehrheit. Die AKP ließ anschließend alle Koalitionsverhandlungen scheitern, Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzte schließlich Neuwahlen für den 1. November an. Kurz vor den Wahlen verübten aus der Türkei stammende Attentäter des IS am 10. Oktober 2015 ein Bombenattentat auf eine Friedensdemonstration in Ankara. Bülent Mumay veröffentlichte trotz Nachrichtensperre brisante Hintergründe. »Wir konnten doch nicht verschweigen, dass den türkischen Sicherheitskräften diese Attentäter als IS-Militante bekannt waren und diese sich trotzdem unbehelligt aus Syrien bis in die Hauptstadt bewegen konnten«, sagt der Journalist entschieden. Er sitzt in einem Café an seinem Laptop. »Neue Wahlkampfstrategien« hatte Hürriyet den Anschlag im vergangenen Oktober genannt.
Nach dem Anschlag im Oktober 2015 konnte die prokurdische HDP am 1. November 2015 erneut die Zehn-Prozent-Hürde überwinden, die Regierungspartei ging jedoch gestärkt aus den Neuwahlen hervor. »Viele nichtkurdische Intellektuelle haben erstmals die HDP gewählt, um die Macht der AKP zu brechen«, sagt die Künstlerin Zeyno Pekünlü. Sie gehört zu den Unterzeichnern einer Friedenspetition und verlor im Januar ihren Lehrauftrag an einer Istanbuler Universität. Immer wieder thematisieren Intellektuelle in der Türkei den Zusammenhang zwischen den Bestrebungen des türkischen Präsidenten, seine Macht innerhalb eines Präsidialsystems türkischer Prägung zu vergrößern, und der derzeitigen Gewalt im Land. Mehr als 1 000 Wissenschaftler hatten Mitte Januar den Aufruf an die türkische Regierung und den Präsidenten, die Gewalt gegen die Menschen in den überwiegend von Kurden bewohnten Gebieten des Südostens zu beenden, unterschrieben. »Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen, besteht überhaupt kein Unterschied«, sagte Erdoğan am 15. März. Eine deutliche Nachricht an diejenigen, die immer noch versuchen, im legalen Rahmen politisch zu agieren.
Die ostanatolische Stadt Gaziantep liegt 20 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Der IS beschießt regelmäßig den Grenzort Kilis ganz in der Nähe. Gaziantep liegt im direkten Einzugsgebiet der Kämpfe. Und obwohl kaum Kurden hier leben, solidarisieren sich viele Oppositionelle entschieden mit ihnen. Die Autorin Fatma Keskintimur arbeitet in der Frauenbewegung und schreibt für die Tageszeitung Evrensel, eines der wenigen noch verbliebenen oppositionellen Medien. Für sie ist die türkische Regierung ein zentraler Verursacher der Gewalteskalation. Die kurdische Bewegung als Feindbild wird für sie vor allem durch die unterschiedliche, auf Emanzipation setzende Frauenpolitik repräsentiert. »Drei kurdische Politikerinnen wurden im Krisengebiet Cizre getötet. Das waren Kurdinnen aus der Frauenbewegung. In diesem Krieg wird der nackte Körper von ermordeten Frauen ausgestellt. Über die nackten Körper der Frauen demonstrieren die Männer die Wiederherstellung ihrer Macht.« Im Internet kursieren Bilder von verstümmelten PKK-Kämpferinnen. Wo sie getötet wurden, ob in der Türkei oder in Syrien, ist oft nicht ersichtlich. Diese Bilder können aber nur die Täter gemacht haben. Fatma Keskintimur unterstreicht: »All das sind nicht die Taten von ein paar versprengten Perversen, das ist eine systematische Politik. In den Kurdengebieten ist das alles brutaler als in den westlichen Teilen des Landes, und was da passiert, wird von Leuten, die den Staat repräsentieren, gemacht. Das sind Polizisten und Soldaten, der Staat müsste eingreifen, sie anklagen, bestrafen und dafür sorgen, dass so etwas nicht weiter passiert.«
Fatma Keskintimur recherchierte als erste Journalistin in Syrien und der Türkei. Sie wies nach, dass auf türkischem Boden ein Büro existiert, in dem Menschenhändler des IS entführte Jesidinnen an ihre Familien zurückverkauften und damit Gewinn machten. Die Täter wurden zwar vorübergehend festgenommen, doch bestraft wurden sie nicht. »Die lokalen Frauenverbände haben sich für eine Anklage eingesetzt, die Anwaltskammer nahm sich der Thematik an. Sie haben gefordert, dass dieses Büro geschlossen und die Hintergründe ermittelt werden. Weiterhin, dass alle involvierten polizeilichen Kräfte wegen Vernachlässigung der Amtspflicht angeklagt werden müssen. Es wurde ein Verfahren eröffnet, sieben Leute wurden festgenommen. Innerhalb von 15 Tagen wurden sie allerdings freigesprochen.«