In Venedig wird an das 500jährige Bestehen des jüdischen Ghettos erinnert

Das erste Ghetto

Vor 500 Jahren wurden die jüdischen Einwohner Venedigs in ein Ghetto gesperrt. Heute erinnert die jüdische Gemeinde an dessen Geschichte.

Eine Handvoll Kinder jagt in der Nachmittagssonne schreiend einem Ball nach, die hohen Wände der angrenzenden Häuser verstärken den Klang. Mit seinen pastellgelben und granatapfelroten Hausfassaden wirkt der Campo de Gheto Novo in Cannaregio, dem ruhigen Nordwestteil am Stadtrand Venedigs, pittoresk. Gesäumt wird der Platz von schmalen Wasserarmen, das Areal kann nur über drei kleine Brücken betreten werden.
Der Campo wird rund um die Uhr von Carabinieri überwacht, unweit des Wachhäuschens erinnert ein Bronzerelief an die 246 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Venedigs, die zwischen Ende 1943 und Anfang 1945 von den deutschen Besatzern und ihren italienischen Helfershelfern in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Nur wenige kamen zurück.
Heute hat die jüdische Gemeinde Venedigs noch 450 Mitglieder, bei ­einer Gesamteinwohnerzahl von 260 000. Der Campo bildet mit seinen zahlreichen jüdischen Geschäften, dem Altersheim Casa Israelitica ­Riposo, dem Museo Ebraico sowie drei der insgesamt fünf Synagogen Venedigs einen zentralen Ort jüdischen Lebens in der Lagunenstadt. Allerdings wohnen nur noch wenige Juden auf dem Areal um den Campo, wie viele andere Venezianer zieht es gerade die Jungen aufs Festland, sagt Silvia Crepaldi, die etwa zehn Besucher durch das jüdische Museum führt. Inschriften an den Häuserfassaden weisen darauf hin, wo sich einst Pfandleihgeschäfte und Banken befanden. In der Nähe des Museums und unweit der ­Bäckerei Volpe, die »Dolci Ebraici« anbietet, sieht man eine Steintafel von 1704 mit dem Strafkatalog für Juden, die trotz Konversion zum Christentum heimlich ihren religiösen Bräuchen nachgingen.
Vor 500 Jahren, am 29. März 1516, beschloss der Senat der Republik Venedig, alle Jüdinnen und Juden der Stadt in ein geschlossenes Wohngebiet zu sperren. Darin befand sich auch ebenjener Campo – eine damals unwirtliche Gegend nahe den Gefängnissen und dem Massengrab für exekutierte Verbrecher. »Die Juden müssen alle gemeinsam in dem Komplex von Häusern (…) bei San Girolamo wohnen«, heißt es in dem Dekret, »und damit sie nicht die ganze Nacht umhergehen, sollen zwei Tore errichtet werden. Diese müssen morgens beim Klang der Marangona-Glocke von San Marco geöffnet und um Mitternacht durch vier christliche Wächter zugesperrt werden, die dafür von den Juden bezahlt werden zu einem Preis, der Unserem Kollegium angemessen erscheint.«
Die etwa 700 Jüdinnen und Juden der Stadt wurden gezwungen, sich auf einem abgetrennten Gelände von rund einem Hektar niederzulassen. Mauern wurden gebaut, Ausgänge geschlossen, Türen und Fenster zugemauert, zwei Boote patrouillierten Tag und Nacht die das Areal umgebenden Kanäle. Die Bewohner mussten wie schon zuvor einen gelben »Judenkreis« oder einen spitzen »Judenhut« tragen. Nur jüdische Ärzte durften das »Gheto Novo« genannte Wohngebiet ohne Strafe verlassen. Die Bezeichnung für das venezianische Judenviertel sollte eine unrühm­liche Karriere machen. Zuvor hatte sich dort die sogenannte Neue Gießerei befunden, im lokalen Dialekt geto novo. Auch wenn es nicht die erste Zwangsumsiedelung von Juden in ein abgeschlossenes Wohngebiet war – die Frankfurter »Judengasse« entstand bereits 1462 –, bürgerte sich »Ghetto« als Bezeichnung für isolierte Judenviertel über Venedig hinaus ein. Spätestens seit der Shoah steht der Begriff weltweit für Ausgrenzung und tödliche Segregation.
Die Idee, Jüdinnen und Juden einen eigenen Wohnbezirk zuzuweisen, gab es in Venedig seit dem 14. Jahrhundert. Schon länger herrschten ähnliche Auflagen für die deutschen Kaufleute und die türkischen Händler, auch wurde mehrfach versucht, die Prostituierten der Stadt in ein separates Viertel einzuschließen. Hintergrund der Etablierung des venezianischen Ghettos war die schwierige Situation, in der sich die Löwenrepublik im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Liga von Cambrai, ein gegen Venedig gerichtetes Bündnis, befand. Zur pessimistischen Stimmung kamen die Pest und gefährliche Feuersbrünste hinzu, vor allem am Rialto, dem Geschäftszentrum der Stadt. Die Juden mussten als Sündenböcke herhalten, zahlreichen christlichen Predigern galt die Etablierung des Ghettos als gottgefällige Tat, schreibt Riccardo Calimani, ein Spezialist für jüdische Geschichte in Italien, in seiner Studie über die venezianischen Juden.
Die ersten Bewohner des Ghettos waren italienische und deutsche Juden, die mehrheitlich ab Mitte des 14. Jahrhunderts aus mitteleuropäischen Städten geflohen beziehungsweise von dort vertrieben worden waren. Wohl durch die deutschen Einwanderer veränderte sich auch die Schreibweise von geto zu ghetto, da sie das Wort mit hartem g und kurzem t aussprachen, so die Museumsführerin Crepaldi. Noch heute ist die am Campo de Gheto Novo gelegene, in bestehende Häuser eingebaute deutsche Synagoge erhalten.
Um 1540 kamen die Levantiner nach Venedig – so genannt, weil sie nach ihrer Vertreibung von der Iberischen Halbinsel zunächst ins Osmanische Reich flohen und über levantinische Hafenstädte wie Saloniki und Konstantinopel einwanderten. Die Levantiner unterschieden sich stark von den bereits im Ghetto wohnenden Juden, nicht nur hinsichtlich Sprache, Geschichte, des persönlichen Schicksals und religiöser Bräuche. Die deutschen Juden arbeiteten – wegen des christlichen Zinsverbotes – meist als Geldverleiher, die Levantiner hingegen waren weitgereiste Kaufleute. Mit ihren internationalen Kontakten in Einflussgebiete, die unerlässlich waren für den Kampf Venedigs um die Handelshegemonie über die rivalisierenden Adria-Städte, passten sie gut in das ökonomische Kalkül der Seerepublik. Aus diesem Grund erteilte ihnen der Senat sogar Handelslizenzen, was den deutschen Juden versagt geblieben war. Aufgrund des Platzmangels im Gheto Novo wurde das jüdische Wohngebiet 1541 auf das benachbarte Gheto Vecchio (Alte Eisengießerei) ausgeweitet, wo sich alle Levantiner niederließen. Auch dort galten die restriktiven Bestimmungen. Später siedelten sich auch orientalische Juden an sowie weitere Spanier und Portugiesen, von denen viele zuvor zwangschristianisiert worden waren.
Das Ghetto entwickelte sich zu einer Stadt in der Stadt, die sich weitgehend selbst verwaltete und versorgte. Dennoch mussten die Ghettobewohner horrende Steuern sowie eine im Vergleich zum restlichen Venedig dreimal so hohe Miete zahlen. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich Venedig zu einem Zentrum für die Herstellung jüdischer Bücher und zog dadurch Gelehrte aus ganz Europa an. Allerdings nicht ohne Anfeindungen – auf dem Markusplatz wurde 1563 der Talmud auf päpstlichen Befehl öffentlich verbrannt. Die Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung zeigen sich etwa in der Biographie des Rabbiners Leone da Modena (1571–1648), zu dessen Predigten in der Großen Synagoge auch zahlreiche Christen kamen, sowie im Leben der Dichterin Sara Coppia Sullam (um 1588/92–1641), die einen Salon unterhielt, in dem Juden und Christen gleichermaßen verkehrten.
1633 wurde der jüdische Wohnbezirk auf das Gheto Nuovissimo erweitert. Um diese Zeit erreichte die jüdische Bevölkerung mit bis zu 5 000 Einwohnern ihren Höchststand. Wegen des Platzmangels wurden die Wohnhäuser auf bis zu acht Stockwerke ausgebaut – die »Wolkenkratzer« waren eine Seltenheit im damaligen Venedig. Infolge der Pest von 1630 bis 1632 migrierten viele Juden in andere italienische Städte, etwa ins liberale Livorno.
Im 17. Jahrhundert verlor die Serenissima ihre Vormachtstellung am Mittelmeer. Nach den Zwangsdarlehen während der Kriege gegen das Osmanische Reich waren die finanziellen Möglichkeiten der jüdischen Geldgeber erschöpft, den Banken drohte die Zahlungsunfähigkeit. Zahlreiche jüdische Pfandleiher und Kaufleute mussten ihr Geschäft aufgeben. Viele Ghettobewohner führten nun ein Leben in Armut, andere verließen die Stadt. Das Ghetto war in einem schlechten bau­lichen Zustand. Als 1797 napoleonische Truppen Venedig eroberten, lebten nur noch 1 626 Juden in Venedig. Als Zeichen der Gleichberechtigung entfernten die französischen Soldaten die Tore des Ghettos. Doch nach dem nur wenige Monate später folgenden Einzug der österreichischen Truppen wurden erneut Beschränkungen eingeführt. Erst mit der Gründung des Königreichs Italien 1866 erlangten die italienischen Juden ihre völlige rechtliche Gleichstellung.
Seit März dieses Jahres erinnert die jüdische Gemeinde Venedigs an das 500jährige Bestehen des Ghettos. Teil des Programms ist unter anderem eine im Dogenpalast zu sehende Ausstellung, die den Austauschbeziehungen zwischen den Juden und der restlichen Stadt nachspürt. Zu sehen ist dabei eine virtuelle Rekonstruktion des Ghettos in verschiedenen historischen Phasen, ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem hebräischen Buchdruck. Teil des Jubiläums sind auch zahlreiche, vom Venetian Heritage Council finanzierte restauratorische Maßnahmen im Ghetto. »Doch das 500jährige Bestehen ist weniger ein Grund zum ­Feiern als eine Gelegenheit zu erinnern«, so Crepaldi.