Der türkische Präsident und der Kurdenkrieg

Die innere Eskalation

Zum kurdischen Neujahrsfest Newroz im März 2013 erklärte Abdullah Öcalan eine Waffenruhe und kündigte den Rückzug der PKK-Einheiten aus der Türkei an. Zwei Jahre später ist der damals eingeleitete Friedensprozess hinfällig.

Im vergangenen Sommer brach Recep Tayyip Erdoğan die Verhandlungen mit der PKK ab. Dann begann er Luftangriffe auf PKK-Stellungen als Antwort auf den Anschlag des »Islamischen Staates« (IS) in Suruç auf prokurdische Aktivisten und eine Vergeltungsaktion der PKK gegen zwei Polizisten, die mit dem IS zusammengearbeitet haben sollen. Der Kurdenkrieg begann erneut. Erst hat die PKK den Kampf in die Städte getragen, dann hat die türkische Armee diese Städte angegriffen, mit immer härter Gewalt gegen deren Bewohner.
Jetzt, wo klar wird, dass die PKK die Städte natürlich nicht halten kann, versucht sie den Kampf weiter zu eskalieren. In Interviews mit der BBC und der New York Times sprach der Feldkommandant der PKK im Nord­irak, Cemil Bayık, von einem »Kampf auf Leben und Tod«. Er drohte: »Überall wird Krieg sein.« Das Ziel sei es, die Herrschaft Erdoğans und seiner AKP zu beenden.
In dieser Phase betraten nach fünf Jahren Pause wieder die »Freiheitsfalken Kurdistans« (TAK) die Bühne. Sie bekannten sich zu einem Anschlag auf einen Flughafen in Istanbul, bei dem eine Arbeiterin starb, und zu zwei Anschlägen in Ankara mit zahlreichen Todesopfern.
Über die 2004 gegründeten TAK ist wenig bekannt. Wie die PKK sehen Abdullah Öcalan als Führer an. Die TAK treten bislang nur dann in Erscheinung, wenn auch die PKK mit dem Staat im Krieg liegt und die Eskalation eine gewisse Stufe erreicht hat. Wenn die PKK einen Waffenstillstand ausruft, verschwinden die TAK. Während die PKK zivile Ziele meist nicht angreift, verüben die TAK vorwiegend Terroranschläge auf Zivilisten, auch Touristen. Die PKK weist den Terrorismusvorwurf zurück, was ihr zwar nicht juristisch, aber politisch zumindest außerhalb der Türkei gelingt. Dagegen bauen die TAK ein terroristisches Drohpotential auf. Es bleibt die Frage, ob die TAK wirklich eine unabhängige Organisation sind oder eine ausgelagerte Abteilung der PKK für die hässlichen Dinge.
Das Unglück der Türkei ist indessen, dass Erdoğan mit seiner politischen Rolle trotz aller Erfolge noch immer unzufrieden ist. Er will ein Präsidialsystem, das nicht nur wie derzeit de facto besteht, sondern das in der Verfassung dauerhaft festgeschrieben ist. Da die Opposition dies geschlossen ablehnt und die Sache selbst für seine Anhänger bisher keine Priorität hatte, bedarf es einer außerordentlichen Krise, um das neue System durchzusetzen.
Die Verhandlungen mit der PKK hat Erdoğan wohl nie ernsthaft betrieben. Sie waren ein Weg, sich Ruhe im Osten zu verschaffen und politische Optionen offen zu halten. Die Einsetzung von Räten »vernünftiger Menschen«, also irgendwelcher von der AKP nach willkürlichen Kriterien ausgesuchte Prominente, die dann Lösungsvorschläge erarbeiten, die anschließend unbesehen in den Papierkorb wandern, demonstrierte den Mangel an Ernsthaftigkeit. Weil Abdullah Öcalan mitmachte, ließ sich die kurdische Seite dieses Vorgehen lange gefallen.
Doch mit der Entwicklung in Syrien und den Wahlsiegen der linken HDP mit Selahattin Demirtaş entglitt die Kurdenfrage plötzlich Erdoğans Kontrolle. Daraufhin zerriss Erdogan eine erste Einigung, die die Regierung seines Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu mit Öcalan bereits erzielt hatte.
Die Gewalt destabilisiert die Türkei, nützt politisch aber Erdoğan. Verschreckte Bürger suchen nach dem starken Mann. Im Schatten der Gewalt­eskalation ist es leichter, kurdische Politiker mit Strafverfahren aus dem Verkehr zu ziehen und die Kontrolle über die Medien zu perfektionieren.
Politisch verkauft sich Erdoğan als der Verteidiger der Einheit der Türkei. Rund 350 Tote alleine auf Seiten der türkischen Sicherheitskräfte in neun Monaten (von den zivilen Opfern und den Toten der anderen Seite redet Erdoğan nicht) betrachtet er als Preis für diese historische Aufgabe. Vergessen ist sein Satz: »Die Mütter sollen nicht weinen«, mit dem er einst den Beginn der Verhandlungen mit der PKK gerechtfertigt hatte.
Es mag sein, dass Erdoğan die gesellschaftlichen Folgen seiner Politik unterschätzt hat. Doch für sein persönliches politisches Ziel, eine Präsidentschaft mit Zügen eines Sultanats, hat er viel gewonnen. Erdoğans Radikalität treibt ihm die Wählerschaft der Ultranationalisten zu, während die kurdische Konkurrenz gelähmt ist. Die prokurdische HDP hat es nicht verstanden, sich von der Eskalationspolitik auch der PKK genügend abzusetzen oder sie gar zu bremsen. Das wird sie nach dem Stimmenverlust bei den Wahlen im November in Zukunft weitere Stimmen kosten. Bei möglichen Neuwahlen im Sommer trauen viele Erdoğan seinen bisher größten Wahlerfolg zu, trotz der vielen Toten und der Zerstörung, die sein Ehrgeiz das Land gekostet hat.