Proteste gegen die Arbeitsmarktreform in Frankreich

Im Stehen und im Gehen

In Frankreich haben die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform wieder Fahrt aufgenommen. Es gab Demonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmern, außerdem Schul- und Platzbesetzungen.

Die convergence des luttes, das Zusammengehen gesellschaftlicher Kämpfe aus unterschiedlichen Bereichen, wird dieser Tage in Frankreich praktiziert. Ein Beispiel lieferte die Vollversammlung, die von Teilen des jüngeren und radikaleren Flügels der neuentstandenen Protestbewegung gegen die Arbeitsmarktreform (Jungle World 11/2016) am Montagabend auf dem Platz der Republik in Paris abgehalten wurde. Rund 2 500 Menschen waren dort zusammengekommen, die Teilnehmer mussten sich per Megaphon mühsam verständigen.
An einer anderen Ecke des Platzes demonstrierten Oppositionelle aus der Republik Kongo, die durch Singen und Sprechchöre auf sich aufmerksam machten. Der langjährige kongolesische Präsident Denis Sassou-Nguesso hatte sich nach einer Verfassungsänderung im Oktober am 20. März dieses Jahres der Form halber wiederwählen lassen. Mobiltelefone, soziale Netzwerke und Internet sind seitdem in dem Land blockiert, die Opposition spricht von einer blutigen Farce, es gab Massenverhaftungen in der Hauptstadt Brazzaville (siehe Seite 12).
Nach etwa einer Stunde forderte ein junger Kongolese die Teilnehmer der Vollversammlung dazu auf, praktisch zu werden und sich zu seiner Gruppe zu begeben. Ihm wurde bedeutet, diese solle doch lieber ihr Anliegen auf der Vollversammlung vorbringen. Nachdem der Kongolese insistierte, erhob sich tatsächlich ein Großteil der Teilnehmer der Vollversammlung und ging auf die andere Seite des Platzes. Bei der nunmehr gemischten Versammlung wurden zunächst der internationale Einfluss Frankreichs, dessen Afrikapolitik und die Rolle multinationaler französischer Konzerne thematisiert. In den folgenden Stunden ging es dann wieder stärker um Gesetzesvorhaben in Frankreich, um Arbeitsleben, Ausbeutung und Prekarität.
Seit bald vier Wochen wird in Frankreich gegen das Vorhaben der Regierung demonstriert und gestreikt, das Arbeitsrecht zu »reformieren«. Unter anderem plant die Regierung, das bisherige Vetorecht von Mehrheitsgewerkschaften im Unternehmen gegen ein von Minderheitengewerkschaften ausgehandeltes, in den Augen der Mehrheitsgewerkschaft schlechtes Kollektivabkommen abzuschaffen. Es soll durch eine Abstimmung unter Einbeziehung der Nichtorganisierten ersetzt werden. Die Arbeitszeiten sollen erheblich »flexibilisiert« und ausgeweitet werden, Arbeitszeitpauschalen mit einer Höchstarbeitszeitdauer von bis zu 13 Stunden täglich sollen in kleinen und mittleren Unternehmen auch ohne Gewerkschaften vereinbart werden können. Die geltende tägliche Mindestruhezeit von elf Stunden, die bislang en bloc gewährt werden muss, soll auch gestückelt werden können. Diese und andere Bestimmungen enthält der Gesetzentwurf, den Arbeitsministerin Myriam el Khomri in wenigen Wochen in der Nationalversammlung gegen Widerstand auch aus dem regierenden Parti Socialiste (PS) verteidigen wird.
Jugendverbände und die Studierendengewerkschaft UNEF riefen in Frankreich am Dienstag erneut zu Protesten auf. Am Samstag soll es ebenso Demonstrationen geben, mit Unterstützung fast aller größeren Gewerkschaften. Die Zeit zwischen den Mobilisierungstagen ist aber in aller Regel gefährlich für Bewegungen, denn der Elan droht da zu verpuffen. Und wenn keine Streikbewegung die einzelnen Demonstrationen begleitet, trauen viele abhängige Beschäftigte sich nicht, einen Tag freizunehmen, um auf die Straße zu gehen – deswegen fällt der nächste Protesttermin der Gewerkschaften auch auf einen Samstag. Für einen schnelleren Mobilisierungsrhythmus sorgen derzeit die Jugend- und Studierendenverbände mit ihren weiteren Aktionstagen unter der Woche. Die Regierung, die dies erkannt hat, will deswegen ab Mittwoch speziell mit diesen Verbänden und besonders mit der UNEF verhandeln, um sie aus der gemeinsamen Front mit den Beschäftigtengewerkschaften herauszulösen.
Doch noch ein weiterer Faktor ist inzwischen hinzugekommen, der der sozialen Bewegung Schwung gibt: die Platzbesetzungen in Paris und mittlerweile 25 anderen französischen Städten, darunter Lyon und Toulouse. In Paris hatte die Aneignung des zentral gelegenen Platzes der Republik am Donnerstag voriger Woche begonnen. Drei Abende und Nächte lang wurde dieser unter dem Motto »Nuit debout« (Nacht im Stehen) besetzt. Tagsüber demonstrierten Hunderttausende in insgesamt rund 260 Städten, auch Schulen wurden besetzt. Dabei kam es auch zu einer Reihe von Zusammenstößen mit der aggressiv auftretenden Polizei. Einzelheiten darüber gelangen erst nach und nach ans Licht. So wurde im westfranzösischen Rennes ein 60jähriger Gewerkschafter, der bereits am Boden lag, von Polizisten verprügelt.
In Marseille initiierten Oberschülerinnen und -schüler eine Petition gegen Polizeigewalt. Im ostfranzösischen Chambéry wurden zwischenzeitlich neun Schüler aus einem Internat ausgeschlossen, weil sie am Donnerstag an einer Demonstration teilgenommen hatten.