Für die geplante Reform des Arbeitszeitgesetzes melden die Unternehmerverbände ihre Wünsche an

Nach 48 Stunden, da fängt das Leben an

Das Arbeitszeitgesetz soll reformiert werden. Die Arbeitgeber haben bereits genaue Vorstellungen, wie die Neuerungen aussehen sollen.

Wer mit solchen Wortschöpfungen hantiert, meint es nicht gut mit der Welt. »Flexibilitätskompromiss«, »Fortschrittsdialog«, »lebensphasenorientierte Wahlarbeitszeit«, »Gestaltungsoptionen« – mit Textbausteinen wie diesen wirbt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) für die Reform des Arbeitszeitgesetzes. Für das Unternehmerlager ist das wiederum eine optimale Voraussetzung für einen Angriff auf eine der wichtigsten Errungenschaften der Gewerkschaften: den Achtstundentag.
Die Begrenzung der Arbeitszeit ist seit den ersten Tagen der Gewerkschaftsbewegung ein zentrales Kampffeld. Nach der Abschaffung der Monarchie in Deutschland wurde der Acht-Stunden-Arbeitstag als Höchstgrenze Gesetz, aber schnell durch Ausnahmen verwässert und schließlich von den Nazis kassiert.
Nach dem Zweiten Weltweltkrieg kamen die acht Stunden als vorgesehene Höchstgrenze in Westdeutschland zurück – aber auch samstags wurde gearbeitet. Bis heute gilt die gesetzliche Höchstwochenarbeitszeit von 48 Stunden. Mit der Kampagne »Samstags ­gehört Vati mir« der Gewerkschaften in den Fünfzigern wurde immerhin in Tarifverträgen die 45-Stundenwoche durchgesetzt. Der spätere Kampf um die 35-Stunden­woche scheiterte aber.
Heute ist in den meisten Vollzeitverträgen von etwa 40 Stunden Wochenarbeitszeit die Rede. Der Achtstundentag ist als Höchstgrenze vorgeschrieben. Es gibt aber viele Ausnahmen, so dass auch zehn Stunden lang gearbeitet werden darf. Trotzdem: Der Achtstundentag ist der grundlegende Maßstab für die Bemessung der Arbeitszeit und der Bezahlung.
Allerdings hat die Digitalisierung dazu geführt, dass die klare Trennung von Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmt – zugunsten der Arbeitgeber. Die Firma ist längst nicht mehr der einzige Arbeitsplatz, viele Menschen arbeiten zumindest ab und zu am heimischen Computer. Der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zufolge haben zwei Drittel der in der Bundesrepublik Beschäftigten einen digitalen Arbeitsplatz, können also zumindest theoretisch auch außerhalb der Firma in der Wertschöpfungskette bleiben. Für die Unternehmen ist das ziemlich günstig. »Drei Viertel der Betroffenen bekommen es weder finanziell noch durch einen Zeitausgleich kompensiert, wenn sie für die Arbeit zu Hause noch einmal den Rechner anschalten oder telefonieren«, sagt das DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Um den unfreiwilligen ständigen Bereitschaftsmodus von Beschäftigten einzudämmen, fordert sie unter anderem Regeln für echte Freizeiten, also das Recht auf Nichterreichbarkeit.
Doch ob solche Rechte oder die Bezahlung der Heimarbeit das Ergebnis der von Nahles angekündigten Reform des Arbeitszeitrechts sein werden, ist höchst ungewiss. Die Sozial­demokratin hat den »Dialogprozess Arbeiten 4.0« ­initiiert, bei dem Vertreter von Gewerkschaften, Unternehmen, ­Sozialverbänden und Wissenschaft über die Bedingungen der Beschäftigung im virtuellen Zeitalter diskutieren sollen. Für Ende des Jahres ist die Veröffentlichung eines »Weißbuchs« geplant, in dem »Gestaltungsoptionen für die Arbeitswelt 4.0 dargelegt werden«. Auf dieser Grund­lage will Nahles beraten, welche »Gestaltungsoptionen« es gibt.
»Wir brauchen einen neuen Flexibilitätskompromiss in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft, der neue Sicherheiten mit mehr Flexibilität für Betriebe und Beschäftigte zusammenbringt«, sagt Nahles. Dazu will sie mittelfristig eine »lebensphasenorientierte Wahlarbeitszeit« schaffen, damit Erwerbstätige etwa Familienzeiten besser organisieren können. Außerdem will sie Beschäftigte qualifizieren, damit sie in andere Branchen umsatteln können. Denn Supermarktkassiererinnen könnten durch Selbstbedienungs­scanner ersetzt werden, der Kollege Computer könnte alleine Briefe schreiben und Standardprozesse in der Verwaltung abwickeln.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist für die Arbeitgeber der ideale Vorwand, alte Forderungen auf die Tagesordnung zu setzen. Es müsse »möglich sein, auch einmal über zehn Stunden hinaus zu arbeiten und den Ausgleich hierfür an anderen Tagen zu nehmen«, fordert beispielsweise der BDA-Präsident Ingo Kramer. Das Arbeitszeitrecht soll nach dem Willen der Unternehmenslobby von einer Tageshöchstarbeitszeit auf eine Wochenarbeitszeit umgestellt werden – also weg vom Achtstundentag hin zur 48-Stundenwoche. »Es geht nicht darum, die Arbeitszeiten pauschal zu verlängern, sondern flexibler auf die Wochentage verteilen zu können«, behauptet Kramer. »Wir können nicht mit den Regulierungen der dritten industriellen Revolution die Wirtschaft 4.0 regulieren.« Der Gesetzgeber dürfe »nicht noch mehr als bislang schon in betriebliche Arbeitszeitgestaltungen« eingreifen.
Der Staat regiert jedoch mitnichten in die Arbeitszeiten hinein. Kontrolliert wird die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben kaum – wovon die Unternehmen profitieren, nicht die Arbeitnehmer. Schon heute sind mit Betriebsvereinbarungen fle­xible Arbeitszeiten möglich. Aber dazu müssen Chefs mit Betriebsräten reden. Beschäftigte sind extrem anpassungsbereit und arbeitswillig – oft ohne Mehrbezahlung, nicht nur zu Hause.
Dem DGB-Index »Gute Arbeit« zufolge ackern 60 Prozent der Beschäftigten regelmäßig länger als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart. Fast jeder Vierte arbeitet regelmäßig mehr als 45 Stunden in der Woche, jeder Sechste sogar mehr als 48 Stunden – also über das gesetzlich vorgesehene Maß hinaus. Fast jeder dritte Beschäftigte, der mehr als 45 Stunden in der Woche arbeitet, bekommt die Überstunden meistens nicht bezahlt. »Je länger die tatsächliche Arbeitszeit ausgedehnt wird, desto häufiger arbeiten die Beschäftigten zum Nulltarif«, heißt es in der Studie. 2015 leisteten Beschäftigte in Deutschland 1,1 Milliarden unbezahlte Überstunden – mehr als bezahlte Überstunden, denn das waren nur 817 Millionen.
Ist der Achtstundentag als Regel­größe passé, wird die Zahl der unbezahlten Überstunden ebenso zunehmen wie die Arbeitsbelastung. Die Gewerkschaften sind deshalb strikt gegen das, was die Arbeitgeber »Flexibilisierung« nennen. »Eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes wäre fatal und unnötig«, sagt die Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), Michaela Rosenberger. »Übermäßiger Zeitdruck, ständige Überstunden, Nichteinhalten von Pausen. Das alles gibt es schon heute und das macht die Menschen krank.«
Doch die Arbeitgeber schaffen schon einmal Verhandlungsmasse. Sie wollen nicht nur bei der Tagesarbeitszeit das Rad zurückdrehen. Ihnen geht es auch und gerade um die Lebensarbeitszeit. Dass das Rentenalter bereits auf 67 Jahre heraufgesetzt wurde, reicht ihnen nicht – was angesichts der fehlenden Arbeitsplätze für Senioren nichts anderes als eine Rentenkürzung ist. Diese hat für Arbeitgeber den Vorteil, dass die Sozialversicherungsbeiträge stabil bleiben oder sogar sinken. So begründen sie ihre Forderung nach einer längeren Lebensarbeitszeit selbstverständlich nicht. »Das Arbeitsleben wird länger gehen müssen, sonst bricht am Ende das System zusammen«, sagt BDA-Präsident Kramer stattdessen.
Die Gewerkschaften lehnen die ­Heraufsetzung des Rentenalters ab. Sie beginnen gerade eine Kampagne ­gegen Rentenkürzungen. Gegen die erheblichen Rentenkürzungen unter der rot-grünen Bundesregierung zu Beginn der Jahrtausendwende haben sie so gut wie keinen Widerstand geleistet – der hätte sich auch gegen einen der Ihren richten müssen, denn Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte den einstigen IG-Metall-Funktionär Walter Riester eigens für dieses Projekt ins Kabinett geholt. Gegen die nächste Kürzung in Form der Rente mit 67 haben die Gewerkschaften zwar etwas lauter protestiert, aber auch gegen den Genossen Franz Müntefering haben sie sich nicht durchgesetzt. Noch sagt Nahles, dass es beim Achtstundentag bleiben soll. Aber sie wird auf die Arbeitgeber zugehen, sprachlich hat sie sich bereits bestens dafür gerüstet. Spannend wird, ob die Gewerkschaften es diesmal schaffen, einem sozialdemokratischen »Reformprojekt« ihren Stempel aufzudrücken.