Ein Nachruf auf Imre Kertész

Unverdaulich bis zuletzt

Imre Kertész ist tot.

Als sei es ein Ehrentitel, ist die Bezeichnung »Überlebender« zu einem eigenständigen Begriff geworden, der weder bezeichnet, was überlebt wurde, noch zu fassen vermag, dass für den Tatbestand, der meistens im Deutschen gemeint ist – die Konzentrationslager und insbesondere die Judenvernichtung – ausgerechnet diese Bezeichnung fehlgeht. In den USA ist survivor mittlerweile der Begriff für das Überstehen aller möglichen widrigen und schrecklichen Lebenserfahrungen. Dem survivor wird eine besondere Kraft zugesprochen, diese Erfahrungen zu bewältigen. Etwas davon klingt auch in der deutschen Entsprechung an, wenn zum Beispiel Opfer sexuellen Missbrauchs von sich als Überlebende sprechen. Die Bewunderung heischende Bezeichnung ist mithin mehr als ein Tatbestand.
Überleben kann man eine Havarie, traumatische Lebenserfahrungen, einen Autounfall oder eine an sich todbringende Krankheit – aber Auschwitz? Nicht wenige Überlebende wandten sich gegen diese Bezeichnung, denn es schien ihnen nicht angemessen, den Zufall, der Vernichtung entronnen zu sein, mit dem Glück des Überlebens, dem auch zielgerichtetes Handeln zugebilligt wird, in eins zu setzen.
In den Nachrufen für Imre Kertész, der am 31. März 2016 im Alter von 86 Jahren in Budapest gestorben ist, wird der Überlebende gar zum Übermenschen: »Ein Niemals-Mitläufer, Verächter sämtlicher Ideologien, einer der größten Morallehrer meiner Zeit«, verklärt ihn Durs Grünbein in der FAZ. Gerade weil er Sinngebung verneinte, weil er immer den Zufall betonte, weil er die Shoah zum Angelpunkt der Geschichte erklärte, wird er im Nachhinein zum Sinnsucher, zum Moralisten verklärt: So unverdaulich ist sein Werk. Dem Schicksallosen wird in den Nachrufen ein Schicksal zurechtgezimmert, dass es vor lauter Sein nur so scheppert. Als sei Kertész ein Sinnsucher gewesen, nicht ein Chronist, dessen Sprache allen existentialen Pathos ablehnte, gerieten die Nachrufe zu umso pathetischeren, floskelhaften Ergüssen.
Kaum ein Nachruf aber beschäftigte sich mit dem Spätwerk des Verstorbenen, in dem er den Untergang Europas prophezeite. Schon der deutsche Titel seines letzten Buches, »Letzte Einkehr«, trieft von jenem Pathos, das Kertész so fremd war. Im Englischen heißt es »The Last Refuge«, und auch wenn Rückzugsort nicht so bedeutungsschwanger daherkommt wie die Einkehr, so trifft es doch besser: In den Tagebuchaufzeichnungen handelt Kertész von der Saturiertheit des alten Europa, das sich dem Islam ergeben wird. Das Verhältnis Europas zum Islam beschreibt er als das einer Hure zu ihrem gewalttätigen Zuhälter. Sprache und Sujet gemahnen in ihrer Wucht und Verzweiflung an Oriana Fallaci, der einst verhöhnten und nun doch wieder geehrten italienischen Autorin, wenn Kertész schreibt: »Europa hat Hitler hervorgebracht; und nach Hitler steht hier ein Kontinent ohne Argumente: Die Türen weit offen für den Islam; er wagt es nicht länger, über Rasse und Religion zu reden, während der Islam gleichzeitig einzig die Sprache des Hasses gegen alle ausländischen Rassen und Religionen kennt.«
Unter Umständen wird man später lesen, dass diese unkenden Mahnrufe der schweren Parkinson-Erkrankung und dem Lebensüberdruss des Autors geschuldet waren. Das Gegenteil ist wahr: Sie sind die letzte Konsequenz seines Werkes – ein genuin antifaschistischer Appell in einem unverwechselbaren Sprechen, das wir nun nicht mehr vernehmen werden.