Über Henry James

Vor dem Anbruch einer bösen Zeit

Über Henry James, den letzten Romancier des skeptischen Weltbürgertums.

Die Feindseligkeit, die seit jeher zwischen der Neuen Welt und ihrem einstigen Mutterland bestand, hat sich auch darin niedergeschlagen, das sich in den Vereinigten Staaten und Großbritannien trotz fehlender Sprachbarriere sehr verschiedene Nationalliteraturen ausgeprägt haben. Amerikanische Autoren mit ­einem Faible für Großbritannien sind fast noch seltener als britische mit einer Vorliebe für Amerika. In der literarischen Moderne gab es vielleicht nur einen einzigen: Henry James, 1843 in New York geboren, gestorben am 28. Februar 1916 in London. James, der aus einer wohlhabenden Intellektuellenfamilie kam – der Philosoph William James ist sein Bruder –, genoss eine kosmopolitische Bildung, die ihn zum Wahleuropäer machte, noch bevor er den ­europäischen Kontinent zum ersten Mal betreten hatte. Seine Eltern verkehrten mit Nathaniel Hawthorne und Henry David Thoreau, schon als Kind machte er sich aber auch mit dem Kanon der englischen, französischen und deutschen Literatur vertraut; sein Studium der Rechtswissenschaft absolvierte er an den ältesten Universitäten Europas, in Paris, Bologna und Genf. Nachdem er sich für ein Leben als freier Autor entschieden hatte, zog er nach Paris und später nach England. Ein Jahr vor seinem Tod wurde er britischer Staatsbürger.
Dass sich seine biographische und künstlerische Entwicklung gewissermaßen als Aufbruch zu alten Ufern beschreiben lässt, dürfte zu der Ignoranz beigetragen haben, die James’ Werk mehr als ein Jahrhundert lang in Deutschland entgegengebracht wurde. Während seine Romane und Erzählungen in Großbritannien geradezu populär sind und er in Frankreich früh als ebenbürtiger Zeitgenosse von Flaubert und Proust erkannt wurde, gab es hierzulande lange Zeit nur einzelne, meist schlechte Übersetzungen, die seine Bücher als behäbig-triviale Gesellschaftsliteratur irgendwo zwischen Jane Austen und Rosamunde Pilcher feilboten. Anerkannt war er allenfalls durch die 1898 entstandene Erzählung »The Turn of the Screw« (»Die Drehung der Schraube«), einer, je nach Deutung, Gespenster-, Bewusstseins- oder Kriminalnovelle, die wegen ihrer systematischen Verwischung der Erzähl- und Wahrnehmungsperspektiven zu einem Grundtext der Postmoderne geworden ist. Ansonsten aber sah man sich lieber die James-Adaptionen von James Ivory an, dem amerikanischen Experten für anglophile Literaturverfilmungen, dem die Kinogeschichte auch mehrere Verschmalzungen der Romane E. M. Forsters verdankt. So gern Amerika in Deutschland als kulturlos geschmäht wird, so verbreitet ist die Überzeugung, es verkörpere die Zukunft Europas, weshalb einem Amerikaner, der seine Staatsbürgerschaft gegen die britische eintauscht, mit Verständnislosigkeit begegnet wird. Dass James in seinen späten Lebensjahren die Vereinigten Staaten für die Weigerung kritisierte, Großbritannien im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland zu unterstützen, hat die Ignoranz gegenüber seinem Werk hierzulande noch verstärkt.
Übersehen wurde dabei, dass die Begegnung der amerikanischen ­Zivilisation mit ihren vergessenen historischen Ursprüngen geradezu das Gravitationszentrum von James’ Romanen bildet. Deren Intention lässt sich als Versuch der Wiedergewinnung transatlantischer Erfahrungen beschreiben, die der amerikanischen Gesellschaft in ihrer zukunftsoptimistischen Traditionsvergessenheit abhandengekommen sind und ihr im Modus ästhetischer Imagination zurückgegeben werden sollen. In den Titeln vieler Werke klingt diese diplomatische Absicht an. Die frühen Romane »The Ame­rican« (1875) und »The Europeans« (1878) erzählen von der Befremdung, aber auch Bezauberung, mit der amerikanische Reisende in Europa und Europäer in Amerika erleben, wie ihnen vergessene Elemente der eigenen Geschichte im anderen Land als Fremdes gegenübertreten. Der spätere Roman »The Ambassadors« (1903), in dem James sein Verfahren indirekter Charakterisierung und prismatisch aufeinander verweisender Erzählperspektiven vervollkommnet hat, nimmt das Sujet mit der Begegnung eines Bürgers von Massachusetts und der Welt der Pariser Bohème wieder auf und verleiht ihm eine neue Wendung, indem die gegenüber den Vereinigten Staaten anachronistische europäische Großstadt der historisch jüngeren Ödnis amerikanischer Provinz gegenübergestellt wird. Wie einige andere Werke ist der Roman, unter dem ­Titel »Die Gesandten« übertragen von Michael Walter, aus Anlass von James’ 100. Todestag nun in hervorragender deutscher Übersetzung erschienen.
»Die Gesandten« hat Hanser herausgebracht, der Manesse-Verlag, der schon früher für gelungene James-Editionen verantwortlich zeichnete, legt unter dem Titel »Die Europäer« eine Übersetzung von »The Europeans« vor. Außerdem sind zahlreiche Erzählungen von James zum ersten Mal ins Deutsche übertragen worden. Manesse versammelt sechs unter dem Titel »Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren«, Aufbau beziehungsweise Jung und Jung bringen Einzelausgaben der Novellen »Eine Dame von Welt« (»The Siege of London«, 1883) und »Die mittleren Jahre« (»The Middle Years«, 1893) heraus – alle versehen mit Nachworten in der Tradition von James selbst, dessen poetologische Essays zu seinen großen Romanen, allen voran zu »The Wings of the Dove« (»Die Flügel der Taube«, 1902), bis heute den besten Zugang zu seiner Ästhetik eröffnen. Die Erzählungen eignen sich auch, um einen Einblick in Motive zu bekommen, die die komplexen Figurengeflechte der Romane bestimmen. Neben der Wiederaneignung der Alten durch die Neue Welt, die James’ bevorzugter Form der Reiseerzählung ihre Prägung verleiht, ist das die Problematik künstlerischer und biographischer Vollendung. James veranschaulicht sie an zwei komplementären Sozialcharakteren: dem in der Mitte seiner Jahre stehenden Junggesellen und der jungen, ökonomisch und sexuell unabhängigen Frau aus besserem Hause.
Dass James, der ironisch über seine vermeintliche Sexualabstinenz zu sprechen pflegte und sich eher zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlte, dezidiert unmännliche Figuren und Erzähler bevorzugte (was ihm das verfehlte Lob eintrug, ein Weiblichkeitspsychologe zu sein), hat hierzulande wohl zu seiner Verkennung als Unterhaltungsautor beigetragen. Tatsächlich steht diese Vorliebe in Verbindung mit James’ Lebensthema, dem Erbe des Kosmopolitismus. James’ Frauenfiguren, ­beispielhaft Isabel Archer in dem Roman »The Portrait of a Lady« (»Bildnis einer Dame«, 1881), der vom Scheitern der in Europa geschlossenen Ehe zweier Amerikaner erzählt, ist noch dort, wo sie heiraten, mit schmerzlicher, aber auch freudiger Klarheit der Zusammenhang von Freiheit und Bindungslosigkeit in der Moderne bewusst. Heimat, Haus, ­Familie, Ehe figurieren in ihrer Welt wie eine ferne Realität, die mit Freuden und Herausforderungen des Lebens nichts mehr zu tun hat. Auch James’ Männerfiguren, distanzierte Beobachter, Durchreisende, Weltbürger als Wanderer, würden Häuslichkeit als Verrat am Leben ansehen, das so viele Facetten hat, dass es nie an Faszination verliert.
Dank ihrer Liebe zur Betrachtung und Reflexion sind James’ Figuren aber auch keine modernen Ruhelosen, sondern kontemplative Skeptiker, sozusagen letzte Weltbürger im Angesicht bereits drohender Auslöschung von Geschichte und Erfahrung. »So unschuldig und endlos wie das Vergnügen der Beobachtung sind die Reichtümer, welche die Angewohnheit schafft, das Leben zu analysieren«, heißt es in »Die mittleren Jahre«, und wenn die beiden Protagonisten von »Die Flügel der Taube« am Ende konstatieren, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben, weil »wir niemals wieder sein werden, was wir waren«, klingt das mindestens so sehr nach Hoffnung wie nach Abschied. Wie aber Kate Croy in »Die Flügel der Taube« weiß, dass sie wegen einer unheilbaren Krankheit früh sterben wird, ist dem Schriftsteller in »Die mittleren Jahre« nicht die Lebensspanne gegönnt, um zu seinem »letzten Stil« zu finden: Das immer schon schale Ideal vom glücklichen Lebensabend, selbst ein bürgerliches Versprechen, ist endgültig korrumpiert.
Die Genauigkeit, Intensität und konzentrierte Ruhe, die James’ Prosa noch in ihrem grundlegenden Zweifel am bürgerlichen Fortschrittsoptimismus auszeichnen und ihn von seinen dekadenten Zeitgenossen unterscheiden, verdanken sich dem Bewusstsein, der vielleicht letzte Zeitgenosse einer Wirklichkeit zu sein, deren Erinnerung festzuhalten vornehmste Aufgabe des Künstlers sei. Dass es aber etwas zu retten gibt am europäisch-amerikanischen Kosmopolitismus, daran hat er nie gezweifelt. Nur das Gelingen dieser Rettung sah er mit Skepsis. 1895 schrieb er an seinen Freund James Howell: »Ich fühle seit langem, dass ich in eine böse Zeit geraten bin. … Eine neue Generation, die ich nicht kenne und vor allem nicht mag, hat alles in Besitz genommen.« Insofern hätte ihm Schlimmeres widerfahren können, als ein wenig Gelesener zu sein.