Dan O’Hara im Gespräch darüber, wie künstliche Intelligenzen die Arbeitswelt verändern werden

»Befürchtungen werden runtergespielt«

Dan O’Hara ist Experte für Machine Culture, Buchautor und Literaturhistoriker am New College for The Humanities in London. Im Gespräch mit der »Jungle World« erklärt er, warum weniger über die Maschinen-Apokalypse und mehr über zerstörerische Start-ups, die Polarisierung des Arbeitsmarktes, LKW-Fahrer und Buchhalter gesprochen werden sollte

Im Englischen wird man als »Luddite« verunglimpft, wenn man nicht zeitgemäß mit Technologie umzugehen weiß. Die Ludditen waren aufständische Weber, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts Maschinen zerstörten, die ihre Arbeitsplätze einnahmen. Sehen Sie eine Verbindung von der Zeit der Ludditen zu heute?
Ich stamme aus demselben Dorf in Yorkshire wie Charlotte Brontë, dort gab es Anfang des 19. Jahrhunderts eine starke Ludditen-Bewegung. Die alten Dorf-Pubs in der Umgebung wurden zu den Zeiten der Ludditen als Gerichtsräume benutzt. Im Obergeschoss wurde ihnen der Prozess gemacht, bevor sie draußen gehängt wurden. Thomas Pynchon schrieb 1984 einen vielbeachteten Essay »Is it okay to be a Luddite?«. Pynchon prognostizierte eine neue Welle des Luddismus, aber auch eine Zusammenkunft von biologischen Wissenschaften, Computerberechnung, Robotik, Künstlicher Intelligenz – wenn dies passiere, so Pynchon, fingen die Probleme erst richtig an.
Auch in den vergangenen Jahren waren die Debatten über Künstliche Intelligenz vor allem von einer Terminologie der Bedrohung geprägt – überschatten diese Ängste die Möglichkeiten, die mit künstlicher Intelligenz auf dem Arbeitsmarkt einhergehen?
Ich glaube eher, dass die Befürchtungen heruntergespielt werden. Die weniger ausgebildeten Arbeiter und die untere Mittelschicht sind noch immer nicht ausreichend im Bilde über die potentiellen Gefahren, die Formen Künstlicher Intelligenz für ihr Arbeitsleben bringen können. Die Berichterstattung über KI wird oft mit Vorstellungen von Apokalypse, Dystopien oder Terrorismus vermischt und wirkt so primär auf psychologischer Ebene. Selten geht es um Spezifisches. Dabei wäre es wichtig, diese unmittelbaren Bedrohungen offen zu benennen: »Hey, du fährst einen LKW, du solltest dir Sorgen um deinen Beruf machen.«
Arbeitsplätze im Transportsektor scheinen am stärksten von der Automatisierung durch KI bedroht.
Absolut. Uber zum Beispiel hat als Unternehmen eine spezielle Nische ausgemacht: Leute, die Zeit haben, Autofahren können und ihr eigenes Fahrzeug besitzen. Sie fahren zu einem Preis, der unter dem der Taxifahrer liegt, und treten einen Anteil an Uber ab. Uber benutzt also eine Form von Automatisierung der nächsten Generation, um, so würden sie argumentieren, den Mobilitätsprozess zu optimieren. In London müssen Taxifahrer einen legendär schwierigen Test – »The Knowledge« – bestehen. Man muss London wie seine Westentasche kennen, um Taxi fahren zu dürfen. Uber nutzt ein relativ einfaches System aus Satellitennavigation, Smartphones und GPS, rudimentäre Formen Künstlicher Intelligenz also, und spricht von der Disruption des Taximarktes. Erst jetzt begreifen Taxifahrer, was für eine enorme Bedrohung dieses System für ihren Lohnerwerb und die erlernte Qualifikation darstellt.
Ist es ein mögliches Szenario, dass die Taxibranche auf lange Sicht komplett einem Uber-System weicht?
Die Frage ist, ob es es möglich ist, Uber-Fahrer in Vollzeit zu sein. Kann man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten, seine Familie ernähren, in derselben Form wie ein Taxifahrer? Das ist nicht möglich, da das Geschäftsmodell darauf basiert, einen bereits am Boden liegenden Geschäftszweig preislich zu unterbieten. Douglas Rushkoff beschreibt in seinem Buch »Throwing Rocks at the Google Bus« den amerikanischen Mythos des ständigen Wachstums. Jede Industrie müsse konstant wachsen, um zu bestehen. Damit verknüpft ist die Bedrohung durch Automatisierung. Rushkoff verdeutlicht, wie viele dieser vermeintlich disruptiven Firmen vor allem den lokalen Handel untergraben, indem sie Monopole erschaffen. Das ist ein sehr altmodisches Geschäftsverhalten. Uber besitzt nichts, es beschäftigt diese Menschen nicht im Sinne eines Arbeitgebers. Uber-Fahrer haben keine Sicherheiten, die normalerweise mit einer Anstellung einhergehen – keine Rente, keine Zuschüsse, keine gesicherten Arbeitsplätze. Man macht es nebenher, wenn man einen halben Tag oder 16 Stunden Zeit hat. Uber stellt keine Karriere, keinen Beruf in Aussicht. Die deutsche Idee des steuerfreien 400-Euro-Jobs ist nicht viel anders.
Im Englischen gibt es die Unterscheidung zwischen Blue-Collar- und White-Collar-Jobs – wie stark unterscheidet sich die Bedrohung durch automatisierte Prozesse in beiden Bereichen?
In London wurde an der James Martin School und am Institute for Public Policy Research hierzu ausführlich geforscht. Am stärksten bedroht sind Transport, Einzelhandel, Buchführung und dann, eventuell, Bauwesen. Nun, ist Buchführung »Blue Collar«? Ein ähnliches Beispiel sind Anwaltsgehilfen, also Menschen, die Akten aus dem Archiv suchen und dem Anwalt so zuarbeiten.
Der Beruf des Anwalts ist selbst noch nicht in Gefahr?
Nein. Das ist natürlich ein durch und durch elitäres und instrumentalisierendes Denken. Es ist das Gleiche, wie wenn ich etwas schreibe. Ich schreibe nichts per Hand und lasse es auch keine Sekretärin machen. Ich habe tippen gelernt und besitze meinen eigenen Computer. Der Computer ist mein Assistent geworden. Der Begriff Computer bezog sich ursprünglich ja auf die Menschen, die die Rechner bedienten, nicht auf den Apparat.
Inwiefern lässt sich die derzeitige Entwicklung für handwerkliche Arbeit mit der industriellen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichen?
Es scheint logisch, dass bislang von Hand ausgeführte Arbeit ersetzt wird, ähnlich dem, was wir zu Beginn des 20.Jahrhunderts gesehen haben. Henry Fords Einführung des Förderbandes hatte einen großen Effekt auf die gesamte Automobilindustrie. Zu dieser Zeit war es alles andere als klar, dass der Benzinmotor sich durchsetzen würde. Es gab bereits dampfbetriebene Autos und elektrische Autos. 1900 gab es 4 192 Autos in den USA. Nur 956 davon fuhren mit Benzinmotoren. Zwischen 1900 und 1914 konnte Henry Ford sich mit der Einführung des Förderbandes von seinen Konkurrenten absetzen. Bereits 1914 konnte er auf diese Weise jeden Tag 650 Autos bauen.
Die Oxford-Professoren Carl Frey und Michael Osbourne haben 2013 eine Studie veröffentlicht, derzufolge 47 Prozent der Jobs in den kommenden 25 Jahren automatisiert werden. Die bisherigen Studien beziehen sich vor allem auf den US-amerikanischen Raum. Inwiefern lassen sich diese Prozesse auf andere Arbeitsmärkte übertragen?
Die Oxford-Studie für den US-Markt lässt sich nicht eins zu eins auf Deutschland, Großbritannien, China, Indien oder Brasilien anwenden. Nicht alle Länder sind denselben Bedrohungen durch algorithmische Automatisierung ausgesetzt. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Das britische Justizsystem beruht vor allem auf bürgerlichem Recht, auf Urteilen und Fallbeispielen. Im Gegensatz zum deutschen Rechtssystem ist es nicht wirklich kodifiziertes Recht im Sinne des Gesetzbuchs. Daraus folgt, dass verschiedene Systeme nicht in gleichem Maße anfällig sind. Kodifiziertes Recht ist zwangsläufig anfälliger für algorithmische Automation als bürgerliches Recht.
Nun geht es nicht nur um den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern auch um die Qualität der Arbeit. Ist es nicht eine gute Idee, gefährliche, mühsame und letztlich inhumane Arbeit Künstlicher Intelligenz zu überlassen?
Absolut, David Graeber spricht hierbei von Bullshit-Jobs. Das ist richtig und wichtig. Graeber bezieht sich auf solche Jobs, die von den Arbeitern als nicht wirklich von Wert angesehen werden. Bedeutungslose Arbeit, die nichts als einen Lohn zur Folge hat. Ersetzen wir hierbei den Begriff der Automatisierung für einen Moment durch Algorithmen. Viele Arbeitsfelder sind bereits algorithmisch, auch wenn sie noch nicht von Computer-Algorithmen ersetzt wurden. Ein Algorithmus ist gewissermaßen nichts weiter als ein Ablaufdiagramm. Hier gelangen wir wieder an die Schnittstelle zwischen körperlicher Arbeit und »White Collar Work«. Konkret bedroht sind vor allem Arbeitsplätze, die auf bestimmten Regeln und binären Ja-oder-nein-Entscheidungen basieren. Mein Lieblings-Beispiel ist die Personalverwaltung an Universitäten, das »Human Resources Department«. Ein Großteil der dort verrichteten Arbeit – die Identifizierung von Stellen, Ausschreibungen, der Auswahlprozess bis hin zum eigentlichen Bewerbungsgespräch mithilfe einer Checkliste – sind im Endeffekt algorithmische Vorgänge. Die Perspektive einer vollständigen Automatisierung ist hier besonders hoch, auch wenn es weniger offensichtlich erscheint als im Falle von Transport oder körperlicher Arbeit.
Was bedeutet das für die Möglichkeit, die von Graeber als Bullshit-Jobs identifizierte Arbeit mittels KI obsolet zu machen?
Es gibt Möglichkeiten eines allgemeinen Nutzens. Jedoch ist dies nicht nur eine Frage von Automation am Arbeitsplatz, sondern vor allem eine politische. Der unmittelbare Effekt von automatisierter Arbeit ist die weitere Polarisierung des Arbeitsmarktes. Der Abstand zwischen den sozialen Schichten wird sich zunächst einmal vergrößern. Für mich übertrumpft dieser Aspekt im Moment alle langfristigen Vorteile. Dies ist eine sehr komplexe Debatte mit vielen Unwägbarkeiten. Nehmen wir zum Beispiel Bankautomaten. Im Englischen spricht man von »ATM«, »Automatic Telling Machines«. »Bank Teller« sind die Angestellten am Schalter in amerikanischen Banken. Man würde also annehmen, dass die Bankautomaten die menschlichen Angestellten am Schalter ersetzt hätten. Das Gegenteil war der Fall, die absolute Zahl an Bankangestellten wurde sogar erhöht. Die Automaten erhöhten die Nachfrage für Bankgeschäfte zu jeder Zeit. Das war eher ein kurzfristiger Effekt, aber eine interessante Paradoxie.
Was halten Sie von der Hoffung auf einen langfristigen Vorteil für die Allgemeinheit durch Künstliche Intelligenz auf dem Arbeitsmarkt?
Das ist eine absolut elitäre Haltung. Welchen Karriereweg sollen junge Menschen ohne höhere Bildung einschlagen, um nicht in 20 Jahren zehn verschiedene Schichten bei Uber oder Starbucks gleichzeitig ausführen zu müssen? Mit diesen Leuten muss man direkt sprechen. Das bringt uns zurück zu den Ludditen – die Argumentation gegen die Maschinenzerstörer war damals, dass die Arbeiter in der Folge der industriellen Revolution ihre Fähigkeiten auf eher kognitive Bereiche ausweiten würden. Diese Idee herrscht noch immer vor – man geht davon aus, dass körperliche Arbeit abgenommen und mehr Raum für Kreativität geschaffen wird. Aber historisch gesehen war dies noch nie der Fall.
Gibt es Beispiele, in denen Automatisierung diese sozial-utopischen Ideen realisiert hat?
Es gibt Geschäftsmodelle der neuen Generation, die auf dem Tausch von Waren basieren, ohne ganze Industrien und Lebensgrundlagen zu zerstören. Ebay ist ein Beispiel dafür, wie ein positives Tauschmodell zum allgemeinen Vorteil institutionalisiert wurde. In der Ära der Massenproduktion gab es bislang keine universell nutzbaren Auktionshäuser, um alte Fernsehgeräte, Telefone und Gerümpel loszuwerden. Es wurde weggeworfen oder irgendwo verstaut. Insofern hat Ebay ohne Anflüge einer Monopolstellung einen positiven Effekt auf den Handel ausgeübt. Es hat Märkte im ursprünglichen Sinne in den virtuellen Raum gebracht.
Würden Sie eher eine positive oder eine negative Einschätzung bis 2025 vornehmen?
Es kommt auf das Land an, in dem ich lebe, welcher Klasse ich angehöre, welches Bildungsangebot mir zur Verfügung steht, welches Regierungssystem vorherrscht. Zumindest für England und die USA sehe ich momentan eher eine weitere Aufsplitterung des Arbeitsmarktes als unmittelbare Konsequenz des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz. Berufskarrieren im bisherigen Sinne verschwinden langsam. Gerade in der deutschen Kultur schien mir die Idee einer Karriere bisher eine größere Rolle zu spielen. Man wird Experte für eine bestimmte Sache, ist sehr gut in einem Feld ausgebildet und übt diesen Beruf sein Leben lang aus. In den USA, in Großbritannien und andernorts wurde diese Vorstellung bereits weitestgehend zersetzt.