Kritiker des »Ghettorentengesetzes« vor Gericht

Richter vor Gericht

Der nordrhein-westfälische Sozialrichter Jan-Robert von Renesse wies auf Mängel im sogenannten Ghettorentengesetz hin. Deswegen steht er nun vor Gericht. Rufschädigung lautet der Vorwurf.

Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) erhielt Mitte März ungewöhnliche Post aus Israel. In einem Brief wies die Vorsitzende des Dachverbandes für Holocaust-Überlebende und ehemalige sozialdemokratische Knesset-Abgeordnete Colette Avital auf ein laufendes Verfahren gegen einen deutschen Richter hin. Vor allem Holocaust-Überlebende und ihre Nachfahren, schreibt Avital, fühlten sich »tief gekränkt durch die Nachricht, dass der Richter Jan-Robert von Renesse vor Gericht gebracht wird«.
Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland wandte sich in einem ­Schreiben desselben Inhalts an die ­Ministerpräsidentin. Durch seine Arbeit habe von Renesse »zahlreichen Shoah-Überlebenden einen Teil ihrer Würde zurückgegeben«, betonte Zentralratspräsident Josef Schuster. Es sei nicht Anliegen des Zentralrates, sich in ein internes Disziplinarverfahren einzumischen. Dennoch wolle man die Verdienste von Renesses hervorheben, ein faires Verfahren bei der Beantragung der sogenannten Ghettorenten ermöglicht zu haben. Schuster bedauere sehr, dass sich der Richter nun in einer derartigen Situation wiederfinde.
Avital wurde wegen des Verfahrens auch beim deutschen Botschafter in Tel Aviv vorstellig. Dieses Gerichtsverfahren schade dem Ansehen der Bundesrepublik, sagte Avital dem Diplomaten. »Das ist das erste Mal, dass ein Richter nach dem Zweiten Weltkrieg vor Gericht gebracht wird, weil er Opfern zu ihrem Recht verhalf«, empörte sich Avital gegenüber der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin. »Richter von Renesse ist ein anständiger und mutiger Mann«, so die 75jährige weiter, »der für seine Bemühungen gewürdigt und nicht bestraft werden sollte.«
Das sieht das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen anders. Grund für die Klage vor dem Dienstgericht ist, dass der 49jährige Sozialrichter dem Ansehen der Justiz öffentlich geschadet haben soll. Im Kern geht es um zwei Petitionen. Die erste schickte von Renesse 2011 an den nordrhein-westfälischen Landtag. Als dies nichts bewirkte, adressierte er ein Jahr später eine weitere an den Bundestag.
Der Jurist wies in den Petitionen auf die Mängel im Ghettorentengesetz hin und stellte fest, dass die bis dahin übliche juristische Praxis ein »faires rechtsstaatliches Verfahren unmöglich machte«. Anhand von Beispielen und Dokumenten versuchte er nachzuweisen, dass er in seiner Arbeit und in seiner richterlichen Unabhängigkeit behindert werde und dass es zwischen den Gerichten und der Deutschen Rentenversicherung Absprachen gegeben habe. Landessozialgericht und Landesjustizministerium wiesen die gegen sie erhobenen Vorwürfe rundweg zurück.
Nachdem sich von Renesse im April 2012 mit seiner zweiten Petition an den Bundestag gewandt hatte, leitete das Landessozialgericht ein Disziplinarverfahren gegen den Richter ein – unter anderem wegen Rufschädigung. Das Ministerium von Thomas Kutschaty (SPD) erhob Klage und sorgte somit für eine Verschärfung des Disziplinarverfahrens. Konkret wird von Renesse vorgeworfen, seine beamtenrechtliche »Verpflichtung zu achtungs- und schutzwürdigem Verhalten im Dienst« verletzt zu haben. Schließlich habe er Sachverhalte unrichtig dargestellt und sich somit einer Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit in dem Bundesland schuldig gemacht.
Wolfgang Meyer, der ehemalige Senatsvorsitzende am Bundessozialgericht in Kassel, der bereits 2006 ein wegweisendes Urteil für die erleichterte Anerkennung der Ghettorentenansprüche gefällt hatte, äußerte sich gegenüber dem Deutschlandfunk »überrascht davon, dass das Land Nordrhein-Westfalen diesen in besonderem Maße um die NS-Aufarbeitung verdienten Richter mit einem Dienstverfahren überzieht«. Selbstverständlich dürfe man »auch als Richter seine Meinung sagen« und »Umstände feststellen, die man als negativ bewertet«. Wenn man etwas objektiv darstelle, so Meyer weiter, »dann ist es Meinungsäußerungsfreiheit, das muss jeder andere Richter auch dulden, wie man selbst auch entsprechende Kritik an seiner Rechtsprechung dulden muss«.
Der erste Verhandlungstag endete bereits nach knapp 40 Minuten. Auf den Vorschlag eines beisitzenden Richters hin sollen sich die Parteien an den Verhandlungstisch setzen, um sich doch noch gütlich zu einigen. Bis zum 19. April haben nun beide Seiten Zeit, dies zu tun.