Sächsische und gesamtdeutsche Verhältnisse. Heimatliebe ist in Sachsen kein Monopol der Rechten

Sächsisches Sonderbewusstsein

Wer die sächsischen Verhältnisse auf AfD und Pegida reduziert, lässt einen wesentlichen Aspekt der provinziellen Borniertheit im Freistaat außer Acht. Auf Tradition und Heimatbindung setzen seit Jahrzehnten alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen – auch Linke.

Zur Europawahl 2009 lag die Wahlbeteiligung im Landkreis Mittelsachsen fast 15 Prozent höher als der gesamtdeutsche Durchschnitt. Der Grund: Die Bürgerinnen und Bürger sollten nicht nur über die Zusammensetzung des europäischen Parlaments abstimmen, sondern auch über ein neues KfZ-Kennzeichen, eine Abstimmung, die durch mühsame Unterschriftensammlungen erst herbeigeführt wurde. Die lächerliche Kampfabstimmung, welche Stadt dem neuen Landkreis ihre Buchstaben geben soll, brachte Zehntausende an die Wahlurnen. Vorausgegangen waren monatelange Streitereien und lokalpatriotische Überbietungswettbewerbe. Es gibt manche ostdeutsche Besonderheiten, die sich in Sachsen bemerkbar machen und in der Regel weniger Beachtung finden als der Umgang der sächsischen Landesregierung mit Fremdenfeindlichkeit und die Unfähigkeit der Polizei, gegen den Mob in Clausnitz und anderswo entschieden vorzugehen.

Peter Korigs Blick auf andere Transformationsgesellschaften in Osteuropa und die ökonomisch-strukturelle Verschiedenheit der ehemaligen DDR-Bezirke führt zwar einige dieser Besonderheiten an, erwähnt aber keine der wesentlichen regionalen Triebkräfte. Seine ­Analyse, dass das Problem nicht auf Landkreisebene zu lösen sei, stimmt nur zum Teil. Obwohl die Länder in der DDR seit den fünfziger Jahren sukzessive als Verwaltungseinheiten abgeschafft wurden und die Bezirke an deren Stelle traten, erhielt sich ein sächsisches Sonderbewusstsein, an das 1990 nahtlos angeknüpft werden konnte. Die CDU stellte bisher vor allem deshalb sämtliche Landesregierungen, weil es ihr am besten gelang, als Partei mit Sachsen identifiziert zu werden. Sie wird weniger wegen ihrer Inhalte, sondern wegen ihres identitären Angebotes gewählt. Entsprechend lautete Stanislaw Tillichs Wahlslogan auch: »Der Sachse«.

Die oft auf die Rolle der CDU reduzierte Kritik an den sächsischen Verhältnissen, wie sie beispielhaft Thorsten Mense übte, verkennt, dass sich der Erfolg der Partei nicht nur aus einem besonderen Konservatismus, sondern auch aus ihrer Funktion als Heimatpartei speist, worin ihr SPD, Linkspartei und Grüne regelmäßig Konkurrenz machen. Heimatliebe gegen rechts Das zeigt sich groteskerweise gerade auch im »Kampf gegen rechts«. Die sächsische SPD plakatierte im Landtagswahlkampf 2014 gegen rechte ­Nestbeschmutzer den Slogan »Heimat schützen! Gemeinsam gegen Nazis«, während die Grünen ein Jahr zuvor in Schneeberg fremdenfeindlichen Protesten mit »authentischer Erzgebirgskultur« entgegentraten, um die Bevölkerung mit »heimatverbundenen Liedern gegen rechtsextremistisches Gedankengut zu immunisieren«. Die Rentnerverbände der Linkspartei leben geistig ohnehin noch immer in der DDR, in der Heimat und Sozialismus Synonyme waren. An viele Gemeinplätze der Linkspartei-Basis, wie die »Liebe zum Volk«, das Ressentiment gegen den »Westen« und die Begeisterung für das autoritäre Russland, braucht die »Alternative für Deutschland« (AfD) heute nur anzuknüpfen. Im Gegensatz zu den anderen neuen Bundesländern liegen in Sachsen die drei nach Berlin größten Städte Ostdeutschlands. Diese teilen das Land in unterschiedliche Regionen mit konkurrierenden Fußballvereinen, Traditionen, Heimatnarrativen und Dialekten, an denen Fremde schnell erkannt werden.

Im Erzgebirge verlaufen Sprach- und Fortpflanzungsgrenzen um winzige Ortschaften, deren Insassen garstig über den nächsten Hügel blicken. Da im Schatten der großen Städte das uneingestandene Gefühl des Abgehängtseins noch größer ist, verlangen die damit verbundenen narzisstischen Kränkungen umso stärker nach Kompensation. Deshalb kultivieren alle politischen Akteure eine nahezu libidinöse Heimatbindung, die allem Fremden misstrauisch begegnet und dumpf auf ihre Traditionen pocht. Bezeichnend ist, dass die Propagandakampagnen der sächsischen Klein- und Mittelstädte allesamt mit Gigantismus und Affekten operieren. Von Imagewerbung über Wahlkämpfe bis zum Jargon von Lokalpresse und Verwaltung wird eine Liebe zur Region und zur eigenen Stadt gefordert und gefördert und jede Banalität mit Weltbedeutung aufgeblasen. Lokale Künstler, Sehenswürdigkeiten und Spezialität haben nicht etwa Bedeutung für Sachsen, sondern spielen mindestens in einer Weltliga, die den Eingeborenen meist nur durch die domestizierende Berichterstattung der lokalen Erbauungsjournaille und den Sachsenspiegel des MDR zugänglich ist. Dort wird über Ereignisse ausschließlich aus einer Perspektive berichtet, die die Bedeutung für lokale Partikularitäten hervorhebt und den Horizont an der Stadtmauer begrenzt. Auch die regionalen Imagekampagnen, durch die Heimatpresse sekundiert, verkaufen provinzielle Behaglichkeit, schwören auf die lokale Gemeinschaft ein und unterminieren die individuelle Kritikfähigkeit. Als Folge setzt sich kaum jemand ernsthaft mit der Realität auseinander, sondern immer nur in der Gemeinschaft zusammen, wo dann alle Ressentiments noch einmal bestätigt werden. Für die neue Generation besorgt das der »Heimatkundeunterricht« schon in den Grundschulen, zu dem es im Lehrplan heißt: »Heimat hat zentrale Bedeutung für den Erwerb von Wissen und die Anbahnung von Weltverständnis. In der Auseinandersetzung mit regionalen Gegebenheiten entwickeln die Schüler ihre individuelle emotionale Beziehung dazu und lernen Verantwortung zu übernehmen.« Linke Kiezpatrioten Tatsächlich gibt es in der sächsischen Peripherie keine eigenständige Weltkultur, die Reibung und Widerspruch zum Gewordenen provozieren könnte. Die Forderung der AfD, Museen und Theater auf ein identitäres Programm zu verpflichten, ist bereits seit Jahrzehnten Realität. Das neue, weltoffene und neoliberale Deutschland ist in der sächsischen Provinz niemals richtig angekommen, weshalb die Diskrepanz zur bundesrepublikanischen Öffentlichkeit als Entfremdung empfunden wird. Stattdessen ist hier der Standortfaktor »Weltoffenheit« ein realitätsflüchtiger Marketingslogan, der notdürftig darüber hinwegtäuscht, dass auf gesellschaftliche Veränderungen stets mit aggressiven Verlustängsten reagiert wird. Die wenigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die es in sächsischen Kleinstädten gibt und die schon mit ihren notorischen Namen wie »Stadt X ist/bleibt/wird bunt« die triste Realität beschönigen, richten sich meist gegen eine falsche Außenwahrnehmung, anstatt die engstirnigen Verhältnissee anzugreifen. Ihre konstruktive Mitarbeit führt lediglich zu einer Modernisierung des Lokalpatriotismus und liefert Vorwände für die immer wieder vorgetragene Schuldabwehr der lokalen Verantwortungsträger, Mob und Neonazis seien mit Sicherheit aus anderen Städten angereist und hätten keinen Rückhalt in der Bevölkerung. In den sächsischen Städten und Dörfern mischt sich narzisstisches Imponiergehabe mit dem ostdeutschen Gefühl, ständig zu kurz zu kommen.

Fremde sollen die aufwendig aufgehübschten Innenstädte bewundern, die mit der flächendeckenden Kürzung der Kulturetats bezahlt wurden, aber keinen Schmutz zurücklassen oder auf Dauer bleiben. Hinter der Fassadennormalität kocht derweil die Wut auf Wessis, Flüchtlinge und andere Eindringlinge. Dabei spielt sicherlich auch Rassismus eine Rolle, aber die Reduzierung der ostdeutschen Verhältnisse auf und die in linken Texten monoton vorgetragene Problemdiagnose »rassistische Zustände« erklären seine Genese und Bedeutung ebenso wenig wie die hilflose Auflistung von »Drecksnestern«, die seit einiger Zeit zu den antifaschistischen Erbauungsritualen gehört. Große Teile der sächsischen Linken sind ohnehin selbst heimattreue Kiezpatrioten, die sich wacker gegen szenefremde Eindringlinge und Gentrifizierung genannte Veränderungen stemmen und unablässig Identität, Mythen und Feindbilder produzieren. Auf Kritik reagieren sie ebenso allergisch wie die Stadt- und Dorfgemeinschaften im Hinterland auf Nestbeschmutzer. Im selbsternannten Elbflorenz zirkuliert die Rede von einer »guten« und einer »bösen« Flussseite, der Fluss trennt Pegida-Milieu und den akademischen Nachwuchs. In »Klein-Paris«, wie Leipzig von manchen Antifa-Gruppen genannt wird, zelebriert man den »Mythos der Trutzburg Connewitz«. Der Bewegungsradius der jeweiligen Bewohner reicht über den nächsten Spätshop selten hinaus. Man bleibt also auch hier stets unter sich und kommt mit der Welt kaum in Kontakt. Selbstverständlich sind die identitären Verfallsformen der politischen Linken nicht die Ursache der sächsischen Verhältnisse, aber sie haben einiges mit ihnen gemeinsam. Viel wäre gewonnen, wenn gegen diese Zustände kritische Einzelpersonen, Initiativen und eine Form von Öffentlichkeit gestärkt würden, die nicht jede lokalpatriotische und nach Konsens gierende Parole durchgehen lassen.