Der Konflikt in der Region Bergkarabach verschärft sich

Tod an der Kontaktlinie

Die jüngste Eskalation des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach offenbart das Versagen der internationalen Diplomatie. Eine friedliche Lösung scheint ferner denn je.

Von einem »eingefrorenen Konflikt« um Bergkarabach mag niemand mehr sprechen. In der vorwiegend armenisch besiedelten Region, die sich 1992 von Aserbeidschan losgesagt hatte, brachen am 2. April die heftigsten Kämpfe seit dem Waffenstillstand von 1994 aus. Mindestens 75 Menschen – Soldaten wie Zivilisten – starben auf beiden Seiten. Bei den Scharmützeln in den Vorjahren hatten zumeist Scharfschützen an der sogenannten Kontakt­linie die Waffenruhe verletzt. Nun aber kamen Panzer, Hubschrauber, Kampfdrohnen und Geschütze zum Einsatz. Der aserbaidschanische Ver­teidigungsminister Zakir Hasanow drohte, Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert mit der Luftwaffe an­zugreifen. Aserbaidschanische Einheiten konnten nach eigenen Angaben einzelne Posten von den armenischen Separatisten zurückerobern. Nach diplomatischen Interventionen, unter ­anderem durch Russland und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), schweigen seit Dienstag vergangener Woche die Waffen wieder, doch der Waffenstillstand ist brüchig, immer wieder gibt es Berichte über weitere Gefechte.
Die jüngsten Gefechte in Bergkarabach machten einen komplizierten Konflikt am Rande Europas, der lange Zeit in Vergessenheit geraten war, wieder zum Gegenstand der internationalen Diplomatie. Bergkarabach, von den Armeniern Arzach genannt, ist völkerrechtlich Teil Aserbaidschans. Der südkaukasische Staat erklärte 1991 seine Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion, doch der Streit um Bergkarabach war zu diesem Zeitpunkt schon seit geraumer Zeit im Gange. 1988 übermittelte die armenisch dominierte Lokalverwaltung ­Karabachs der russichen Regierung den Wunsch, das Gebiet möge der armenischen Sowjetrepublik angegliedert werden. Zu diesem Zeitpunkt gehörten noch 22 Prozent der knapp 190 000 Einwohner Karabachs aserbaidschanischen Bevölkerungsgruppen an. Obwohl das Gesuch abgelehnt wurde, kam es 1988 in Sumgait und 1990 in Aserbaidschans Hauptstadt Baku zu größeren Pogromen gegen Armenier. Als die Sowjetunion auseinanderbrach, eskalierte der Konflikt schließlich zu einem Krieg, der mindestens 25 000 Menschen das Leben kostete und die Flucht Hunderttausender auf beiden Seiten auslöste. Aserbaidschan verlor den Krieg und 14 Prozent seines Territoriums. Bergkarabach erklärte seine Unabhängigkeit, die bis heute von keinem Staat der Welt anerkannt wird. Zudem eroberten die Separatisten einige umliegende Provinzen, aus denen alle Aserbaidschaner vertrieben wurden.
Um im seit der Waffenruhe von 1994 weiterschwelenden Konflikt eine Lösung zu finden, richtete die OSZE die Minsk-Gruppe ein, der neben Arme­nien und Aserbaidschan unter anderem die USA, Frankreich und Russland angehören. Doch die Konfrontation vom 2. April demonstrierte nachdrücklich, dass die Konfliktparteien den Glauben an die Mediationsfähigkeit der Gruppe längst verloren haben. In den entscheidenden Fragen des völkerrechtlichen Status Bergkarabachs, der Rückkehr der Flüchtlinge und der Demilitarisierung an der Kontaktlinie erzielten die Unterhändler seit vielen Jahren keine Fortschritte mehr. Entsprechend hilflos las sich auch die gemeinsame Erklärung der Gruppe von vergangener Woche, in der sie lediglich ihre »tiefe Besorgnis« ausdrückte und erklärte, dass der Konflikt »militärisch nicht gelöst werden kann«.
In Aserbaidschan ist man da anderer Meinung. Präsident Ilham Alijew verkündete in der Vergangenheit mehrmals, dass er einen Krieg nicht ausschließe, sollten die Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen. Der Mehrheit der Bevölkerung spricht er damit aus der Seele. Selbst die meisten liberalen Gegner des autoritären Regimes und diejenigen, die noch vor ein paar Wochen gegen die prekäre soziale Lage und steigende Lebensmittelpreise protestierten, sind sich darin einig, dass das Gebiet niemals kampflos an Armenien abgegeben werden dürfe. Gleichzeitig ist für viele Armenier Bergkarabach ein Symbol für das politische Überleben ihrer kleinen Nation. Wie in Baku gingen in den vergangenen Tagen auch in Armeniens Hauptstadt Eriwan Tausende auf die Straße, um sich mit der Armee zu solidarisieren.
Obwohl sich nie genau sagen lässt, wer bei den Eskalationen an der Grenze den ersten Schuss abgefeuert hat, erscheint es plausibel, dass die jüngsten Kämpfe von Aserbaidschan pro­voziert wurden. Der britische Kaukaus-Experte Thomas de Waal analysiert: »Baku weiß, dass es eines seiner wenigen Druckmittel ist, um die Armenier daran zu erinnern, dass der Status quo jederzeit erschüttert werden kann.« Die Gefechte seien genau das, was viele Beobachter des Konflikts seit langem befürchten: militärische Provokationen, die sich in ihrer Eigendynamik zu einem neuem Krieg hochschaukeln könnten. Tatsächlich ist diese Analyse stichhaltiger als der in vielen Kommentaren ­betonte Einfluss der Großmachtpolitik in der Region. Armenien ist per Sicherheitsvertrag mit Russland verbündet, die Türkei unterstützt Aserbaidschan, mit dem es sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten teilt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen schrieb etwa der konservative Journalist Wolfram Weimer für The European einen die Apokalypse herbeisehnenden Kommentar, der im Südkaukasus einen Endkampf zwischen Christentum und Islam heraufziehen sieht.
Das verkennt nicht nur die Säkularität der meisten Armenier und Aserbaidschaner einschließlich ihrer Regierungen, sondern auch die Autonomie der Akteure an Ort und Stelle, die nur mittelbar auf Einflussnahmen aus Russland oder der Türkei reagieren. ­Zudem verkauft Russland sein Kriegsgerät nicht nur an Armenien, sondern ebenso an das Regime Ilham Alijews. Auf muslimische Solidarität aus dem Süden kann das schiitisch geprägte Aserbaidschan indes nicht zählen. Der Nachbar Iran unterhält durchaus gute Beziehungen zu Armenien. Präsident Hassan Rohani erklärte nach Bekanntwerden der Gefechte, seine Regierung stehe beiden Seiten als Friedensrichter zur Verfügung.