Die alternative Kulturszene in Guatemala

Wandel von unten

In Guatemala waren zivilgesellschaftliche Projekte infolge des Bürger­kriegs lange Zeit kaum wahrnehmbar. In den vergangenen Jahren hat sich das jedoch geändert, ein Auslöser war der Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt 2013. Vor allem die alternative Kulturszene von Guatemala-Stadt ist aufgeblüht.

Dritte Avenida 6-51 ist die Adresse eines alten, relativ schmucklosen Gründerzeitgebäudes mit einem kleinen Aufbau auf dem Dach. »Da oben wohnt Alfonso. Er ist der Dreh- und Angelpunkt der Casa Roja und kritischer Dokumentarfilmer«, erklärt Sergio Valdés Pedroni und öffnet die Tür zum alternativen Kulturzentrum »Casa Roja« (Rotes Haus) in Guatemala-Stadt. Hier fanden im vergangenen Jahr zwischen April und September jeden Montag die Vorbereitungstreffen für die Demonstrationen gegen die korrupte Regierung des damaligen Präsidenten Otto Pérez Molina statt. »Jeden Samstag gingen die Leute auf die Straße. Ende August waren es mehr als 100 000 Menschen, die den Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina mit der Parole No tengo presidente forderten«, erinnert sich Valdés Pedroni und Alfonso Porres nickt zustimmend. Die Parole bedeutet: »Ich habe keinen Präsidenten«.
Beide sind Filmemacher und in der kritischen Kulturszene von Guatemala-Stadt gut vernetzt. Diese hat sich in den vergangenen beiden Jahren deutlich verjüngt, denn mit dem Jahrhundertprozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt ist auch die nachwachsende Generation auf die Vergangenheit und die Rolle der Militärmachthaber im eigenen Land aufmerksam geworden.
Dabei spielen kommunale Radios wie »Radio Urbana –Radicalmente democrática« eine wichtige Rolle. »Wir bilden einen Gegenpol zur Konzentration der Medien in Guatemala, die mit der konservativ-militärischen Elite eng verbunden sind«, sagt David Jérez, einer von knapp 20 Mitgliedern des Radiokollektivs. Zwischen 13 und 15 Programme werden derzeit pro Woche produziert, sechs Stunden ist der Sender zwischen Dienstag und Samstag auf Sendung. Da wird alles geliefert, was für die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart in Guatemala nötig ist. So lief an einem Mittwoch Anfang März der »Antidiskurs« mit Sergio Castañeda. Der junge Dichter hat sich mit dem Staatsterrorismus in Guatemala auseinandergesetzt und dazu die Sendung gemeinsam mit dem Kollegen Leonel Juracán vorbereitet. Alternative Musik, Gedichte, aber auch Infobeiträge und Interviews über Arbeiterrechte, den neuen Präsidenten Jimmy Morales, der am 14. Januar vereidigt wurde, oder die Widerstandsbewegung im Land, die sich gegen Megaprojekte engagiert, gehören zum Programm des kleinen Senders, der online zu empfangen ist.
Mit nur 1 000 US-Dollar, der Spende einer jüdischen Kulturorganisation, wurde das kommunale Radio aufgebaut und ging Mitte Dezember vergangenen Jahres auf Sendung. Bis heute fehlt das Geld, um zwei Koordinatoren, die alles Nötige für den laufenden Betrieb regeln, zu bezahlen. »1 000 Dollar im Monat würden schon reichen, aber in Guatemala ist es schwer, Geld für alternative Projekte aufzutreiben«, sagt David Jérez.
Alternativen zur Propaganda
Alternative Projekte und kleine Gruppen und Kollektive gibt es dennoch viele in Guatemala. Einige intervenieren im öffentlichen Raum, wie die Gruppen, die im September und Oktober vergangenen Jahres Wahlpropaganda von Brücken, Schulen und Ampeln entfernten. Viel Aufmerksamkeit haben auch die Aktionen des Colectivo Seudónimo in Guatemala-Stadt hervorgerufen. Dessen Mitglieder plakatierten zwischen August und Dezember im Zentrum der Hauptstadt Gesichter des Widerstands: Fotos von Protestierenden gegen die Korruption und die Politik des damaligen Präsidenten Pérez Molina, eines ehemaligen Generals. Doch auch Bilder ganz normaler Guatemaltekinnen und Guatemalteken sollten einen Kontrast zur Wahlpropaganda bilden, die die Straßen dominierte, so Gustavo García. Er ist einer der Initiatoren der Fotoaktion, die mehrere prägnante Ecken im Zentrum der Stadt verwandelte. Selbst den Bürgersteig vor dem zentralen Wahlgericht, wo Ende Oktober die Stimmen der Präsidentschaftswahl ausgezählt wurden, haben die Aktionskünstler mit Porträts von Guatemalteken in Plakatgröße dekoriert. Protestiert wurde, weil viele Kandidaten als korrupt bekannt waren und das Wahlgesetz die großen Parteien begünstigt. »Unsere Aktionen sollten Ausdruck der Empörung sein, die es in Guatemala gab und gibt«, erklärt García.
Folgerichtig könnte es weitere Aktionen geben, die der Bevölkerung die Augen öffnen sollen. Es engagierten sich immer mehr Menschen, die ein anderes Guatemala wollten und für den Wandel einträten, sagt Alfonso Porres. Er hat mit kritischen Filmen auf dieses andere Guatemala aufmerksam gemacht, hat über den Prozess gegen Ríos Montt einen Kurzfilm gedreht, der sich mit der Arbeit der Forensiker beschäftigte, die oft wichtige Beweise für den Völkermordprozess lieferten.
Als politisch aktive Künstler haben Porres und Valdés Pedroni auch am Filmfestival »Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit« mitgearbeitet, das 2010 erstmals stattfand. Dort liefen ausschließlich Dokumentarfilme, die sich mit dem Thema Menschenrechte beschäftigen. Die Filmschau hat dazu beigetragen, dass sich die jüngere Generation in Guatemala mit der Geschichte und der Region auseinandersetzte. Einer dieser Jüngeren ist der Filmemacher Erick Gálvez alias Spanky, der während der Proteste gegen Pérez Molina mit der Kamera unterwegs war und den vielfältigen, aber friedlichen Widerstand festhielt. »Daraus soll irgendwann ein Dokumentarfilm werden, denn es gibt viel Bildmaterial – auch von anderen Dokumentarfilmern«, so Spanky.
Die Filmemacher arbeiten öfter zusammen, denn die subkulturelle Szene ist klein, aber lebendig. Man trifft sich in der »Casa Roja«, einer der neuen Kneipen im Zentrum der Stadt, oder der Pizzeria 501 in der vierten Straße. Anlaufpunkte sind aber auch Hausprojekte wie die »Casa de los Sueños« von José Miguel Gómez. Das »Haus der Träume« könnte auch in Berlin stehen, denn von dortigen Hausprojekten hat sich der Ingenieur inspirieren lassen, der in allerlei Vorhaben involviert ist, vom Fahrradbau bis zur nachhaltigen Landwirtschaft. »Was in Berlin oder Barcelona vollkommen normal ist, muss hier erst einmal durchgesetzt werden. Wohngemeinschaften wurden hier früher vom Geheimdienst beobachtet«, sagt Gómez lachend und verabschiedet sich aus der »Casa Roja«.
Kritik auf der Bühne
Guatemala ist ein Land, in dem über Jahrzehnte das Militär und die konservative Elite den Ton angaben. Daran hat sich zwar einiges geändert, aber erst in den vergangenen Jahren. Bis heute steht der Prozess auf der Kippe, denn Präsident Jimmy Morales ist für eine konservative, von Militärangehörigen gegründete Partei angetreten, die Front der nationalen Annäherung (FCN). »Seine Partei ist gespickt mit der Militärmafia aus den achtziger und neunziger Jahren. Das sind schlechte Vorzeichen«, urteilt Claudia Samayoa, die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Udefegua. Allerdings seien die kritischen Stimmen kaum zu überhören, so Martín Rodríguez Pellecer, der Leiter des Onlinemagazins Nómada. »Schon zur Vereidigung von Jimmy Morales hat es die ersten Demonstrationen gegeben. Der Wille zum Wandel ist spürbar.«
Dabei spielt der Kultursektor des Landes eine wichtige Rolle, denn dort wird die Auseinandersetzung mit der Geschichte vorgelebt. »Legado Inútil« (nutzloses Vermächtnis) steht auf dem Plakat am Eingang zum Teatro Lux. Das aufwendig sanierte alte Theater in der Zona Uno, dem Zentrum von Guatemala-Stadt, beherbergt das spanische Kulturzentrum. Hier stehen regelmäßig gute Filme, ab und zu Livemusik sowie Theateraufführungen auf dem Programm. »Auch Dokumentarfilme haben hier ihren Platz«, sagt Valdés Pedroni. Er ist heute Abend hier, um die Aufführung des Stücks der Regisseurin Patricia Orantes und die Reaktionen des Publikums zu dokumentieren. Ihr Familiendrama, das ganz harmlos mit einer zwanglosen Feier im kleinen Kreis beginnt, ist von den vier Schauspielern, zwei jungen Frauen und zwei älteren Männern, und der Regisseurin erarbeitet worden und bietet eine Spannungskurve, die es in sich hat.
Als einer der beiden alten Herren, der Onkel der jungen Frauen, erklärt, dass er den Familiensitz veräußern will, um seinem Landgut frisches Kapital zuzuführen, kommt Leben in das Bühnengeschehen. »Im Lauf des Streits um den Familiensitz stellt sich schließlich die Frage, wer wann was zum Familieneinkommen beigetragen hat. Plötzlich steht die Frage im Raum, warum der Onkel in den achtziger Jahren so eng mit den Militärs verbandelt war«, erzählt Orantes. Sie und ihr Theaterprojekt, wo die Stücke kollektiv erarbeitet werden, kommen aus dem Umfeld der Jesuiten-Universität Rafael Landívar. Der Regisseurin ist es wichtig, dass sich die Zuschauer mit den blutigen Jahren der Diktatur und des Bürgerkriegs zu Beginn der achtziger Jahre auseinandersetzen. Schließlich war so gut wie jede Familie vom Bürgerkrieg (1960–1996) betroffen, der mit 200 000 Opfern und 45 000 Verschwundenen damals der blutigste in ganz Lateinamerika war. Lange Jahre regierten die Militärmachthaber und überzogen das Land mit Terror, mit dem Ziel, die vereinigte Guerilla (URNG), die ursprünglich aus vier Organisationen bestanden hatte, in einem schmutzigen Krieg zu eliminieren. Im Mittelpunkt des Theaterstücks steht der Konflikt zwischen den Generationen. Die jüngere kann die Vergangenheit der Älteren und deren Verdrängen der unbequemen Geschichte kaum begreifen und ist dazu auch immer weniger bereit.
Subkultur für alle
Theaterstücke, die sich mit der Vergangenheit und den Widersprüchen zwischen den Generationen auseinandersetzen, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe. Einige thematisieren nun auch sexuelle Tabus und die Gewalt gegen Frauen. Las Poderosas (die Mächtigen) sind ein Ensemble, das sich in einem Frauenhaus rund 140 Kilometer entfernt von Guatemala-Stadt 2007 kennenlernte und sich heute in Theaterstücken und -kursen von und für Frauen mit Sexualität kritisch auseinandersetzt. Das war lange nicht möglich in Guatemala. »Heute treten gleich mehrere Theaterprojekte in den öffentlichen Raum und halten der Gesellschaft den Spiegel vor«, erklärt die Feministin Luz Méndez von der guatemaltekischen Frauenorganisation UNAMG (Unión Nacional de Mujeres Guatemaltecas). Die Gruppe Colectiva Siluetas thematisiert mit »Raus: Lesben auf die Bühne« den Alltag aus Ablehnung, Lesbophobie und Ignoranz. Mit dem Stück ist das vierköpfige Ensemble schon in Mittelamerika, Kolumbien und Mexiko auf Tour gewesen, es fordert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den genannten Themen. Das ist alles andere als einfach, denn in Mittelamerika sind katholische wie evangelische Kirchen oft erzkonservativ und eng mit dem politischen Establishment verquickt.
»Präsident Jimmy Morales hat auch Erfahrung als protestantischer Prediger, gleiches gilt für den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt«, erzählt der Dokumentarfilmer Valdés Pedroni nach dem Ende von »Legado Inútil«. Er lenkt seine Schritte Richtung Präsidentenpalast und steuert auf ein unscheinbares chinesisches Restaurant nur einen Steinwurf dahinter zu. »Shai Wa« steht an der Fassade, aus dem Inneren wummern Bässe, davor steht eine Menschenmenge, die Leute trinken Bier und unterhalten sich. Hier treffen sich Künstler und Intellektuelle, guatemaltekische Dichter wie Wingston González, der in Deutschland beim alternativen Hochroth-Verlag verlegt wird, oder Pablo Bromo sind auch darunter. Man tauscht sich aus und neue gemeinsame Projekte werden angebahnt. Valdés Pedroni hat sich mit der Filmszene und deren Wirkung in Guatemala auseinandergesetzt, gerade ein Porträt des guatemaltekischen Komponisten Joaquín Orellana beendet, ist bekannt wie ein bunter Hund und immer auf der Suche nach neuen Kontakten und Projekten, die hin und wieder selbst vom Ausland registriert und manchmal auch finanziert werden. Darauf hoffen viele der Künstler, doch sie warten nicht ab, sondern sind umtriebig, agieren und produzieren. Dabei spielen Orte wie die »Casa Roja« und oder das »Radio Urbana« eine wichtige Rolle. Dort gibt es immer wieder Möglichkeiten, die eigene Arbeit vorzustellen und Feedback vom Publikum zu erhalten. Das hilft den Jungen genauso wie den Älteren, die sich in Guatemala für den Wandel von unten einsetzen und etwas einfordern, was es in dem Land so noch nicht gegeben hat. »Partizipation«, sagt der Künstler Sergio Ramírez und die Hoffnung in seinen Augen ist dabei kaum zu übersehen.
Der Bürgerkrieg in Guatemala dauerte von 1960 bis 1996. Der ehemalige Präsident Efraín Ríos Montt (1982–1983), ein rechter General, wurde 2013 wegen Genozids an der indigenen Bevölkerung und Verbrechen gegen die Menschheit zu 80 Jahren Haft verurteilt, kurz darauf wurde das Urteil jedoch wegen Formfehlern für ungültig
erklärt. Mitte März dieses Jahr wurde der Prozess erneut aufgenommen.