Rechte paramilitärische Gruppen treten in Kolumbien wieder mehr in Erscheinung

Frieden oder Paramilitarismus

Jedes Jahr gehen in Kolumbien am 9. April Tausende Menschen auf die Straße, um der über 250 000 Opfern des Bürgerkrieges zu gedenken und für Frieden zu demonstrieren. Doch dieses Jahr überwog nicht die Euphorie angesichts der Friedensverhandlungen, wie in den Jahren zuvor, sondern die Angst vor der mörderischen Gewalt rechter paramilitärischer Gruppen.

Es war ein historischer Moment im September vergangenen Jahres: Beim ersten öffentlichen Handschlag zwischen dem kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos und dem Anführer der Guerilla Farc, Timoleón Jiménez alias Timoschenko, legte man sich auf den 23. März als Tag der Unterzeichnung eines Friedensvertrages fest. Doch stattdessen trat vor einem Monat der Verhandlungsführer der Regierung vor die Presse und sprach von noch bestehenden »entscheidenden Meinungsverschiedenheiten in grundlegenden Punkten«.
Dabei geht es vor allem um den Ort und Zeitpunkt der Demobilisierung der etwa 7 000 bewaffneten Guerillakämpfer. Die Farc fordern seit Monaten Sicherheitsgarantien gegen Angriffe paramilitärischer Gruppen. Am 6. April betonten sie in einem Kommuniqué, dass es keinen Frieden geben könne, wenn der Paramilitarismus fortbesteht. Die Angst der Farc-Kämpfer ist begründet: Während der Friedensverhandlungen Anfang der neunziger Jahre wurde der politische Arm der Guerilla, die Unión Patriótica, nach großen Wahlerfolgen von paramilitärischen Gruppen gewaltsam zergeschlagen. Paramilitärische Gruppen ermordeten Schätzungen zufolge zwischen 4 000 und 5 000 Parteimitglieder, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten. Der Rest nahm den bewaffneten Kampf wieder auf, vor allem weil dies die erfolgversprechendste Möglichkeit schien, um zu überleben.
Jahrzehnte später ist jedes politische Engagement mit sozialem Anspruch noch immer lebensbedrohlich: Menschenrechtler, Politiker und Journalisten werden in Drohbriefen als kommunistische Ratten bezeichnet, zu militärischen Zielen erklärt und systematisch ermordet. Laut aktuellen Angaben des Konfliktanalysezentrums Cerac nahm die Zahl politisch motivierter Morde im Jahr 2015 um 35 Prozent zu. Eine Entwicklung, die sich dieses Jahr noch verschlimmerte.
Die ehemalige Senatorin Piedad Córdoba von der Kolumbianischen Liberalen Partei (PLC) organisiert als Führerin der linken Organisation Marcha Patriótica seit Jahren Friedensmärsche im ganzen Land. Anfang April entging sie nur knapp einem Attentat. »Wir zählen jetzt 115 Ermordete in den letzten Jahren. Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen oder an wen wir uns wenden können«, sagte sie in der kolumbianischen Presse und warf der Regierung Untätigkeit vor.
Offiziell gibt es den Paramilitarismus in Kolumbien nicht mehr. 2006 wurden die Einheiten öffentlich entwaffnet. Tatsächlich gingen sie allerdings nahtlos in neue Gruppen über, die weiterhin ganze Regionen kontrollieren. Die Demobilisierung wird häufig kritisiert, da ausgerechnet die dama­lige Regierung von Álvaro Uribe engste Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen unterhielt. Im vergangenen Jahrzehnt wurden wegen sogenannter Parapolítica über 60 Kongressabgeordnete verurteilt und gegen den ehemaligen Präsidenten liegen derzeit 27 Anzeigen vor. Sein Bruder Santiago Uribe sowie sein Cousin, der ehemalige Parlamentspräsident Mario Uribe, sitzen bereits im Gefängnis.
Die Regierung verbannte nach der Demobilisierung den Terminus »Paramilitarismus« aus ihrem Vokabular und spricht seitdem von »kriminellen Banden«. Gerade in den vergangenen Monaten treten diese wieder verstärkt in Erscheinung. Vom 31. März auf den 1. April legten beispielsweise die Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC) in 36 Landkreisen das öffentliche Leben lahm. In einem Drohschreiben verordneten sie den Bewohnern einen »Streik«: Für 24 Stunden durfte niemand sein Haus verlassen; Schulen, Läden und öffentliche Einrichtungen blieben geschlossen. Brennende Autos und Straßensperren prägten das Bild in den betroffenen Regionen, mindestens fünf Polizisten und ein Zivilist wurden getötet.
Die sonst unter dem Namen Urabeños bekannte Gruppe verfügt Schätzungen zufolge über 2 000 Kämpfer, kontrolliert große Teile des landesweiten Kokainhandels und ist für ihre grausamen Praktiken bekannt. 2014 machte Human Rights Watch auf die sogenannten Casas de Pique aufmerksam, Häuser, in denen die paramilitärischen Gruppen systematisch Menschen bei lebendigem Leib in Stücke schneiden.
Die Machtdemonstration der Urabeños ereignete sich einen Tag nach der Aufnahme der Friedensgespräche mit der zweiten kolumbianischen Guerilla­gruppe, der ELN. In ihrem Schreiben definieren sich die Paramilitärs eindeutig als politische Gruppe und betonen, dass sie prinzipiell einen Friedensschluss unterstützen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie versuchen, in die Verhandlungen einbezogen zu werden. Auch die Gefechte der Urabeños mit den Farc häufen sich seit Januar wieder, nachdem es jahrelang kaum zu Zusammenstößen gekommen war.
»Inmitten bewaffneter paramilitärischer Streiks und der Angriffe auf soziale Organisationen und Menschenrechtsgruppen ist es wichtig, am 9. April wieder auf die Straße zu gehen, um zu zeigen, dass wir einer politischen Lösung des Krieges den Rücken stärken, dass wir uns nicht von der Angst paralysieren lassen«, hatte die Basisorganisation Congreso de los Pueblos die Bürger Kolumbiens vor dem Gedenktag aufgefordert. Doch eine solche Antwort auf die Vorkommnisse der vergangenen Wochen blieb aus. Zu dem Friedensmarsch, zu dem vergangenes Jahr landesweit noch Hunderttausende erschienen waren, kamen nur einige Tausend Teilnehmer. Immer weniger Menschen unterstützen Präsident Santos und die Friedensverhandlungen. Laut einer aktuellen Studie haben 73 Prozent der Bürger ein negatives Bild des Präsidenten und 66 Prozent glauben nicht mehr an einen positiven Ausgang der Verhandlungen.
Gegen die wirtschaftsliberale Politik der Regierung Santos demonstrierten am 17. März im Rahmen des Paro Agrario (»Agrarstreik«) allein in Bogotá 15 000 Menschen. Viele fordern Frieden, fühlen sich aber von den Verhandlungen ausgeschlossen und stehen diesen kritisch gegenüber. Zwei Wochen später fand eine vom ehemaligen Präsidenten Uribe angeführte landesweite Demonstration gegen den Friedensprozess statt – mit noch größerer Beteiligung. Die kolumbianische Tageszeitung El Espectador berichtete von allein 80 000 Teilnehmern in Medellín.
Der Frieden scheint trotzdem so greifbar wie noch nie. Iván Cepeda, ein Senator der linken Partei Polo Democrático, bewertete auf Twitter die neue paramilitärische Gewalt und Uribes Marsch als Verzweiflungstat einer Rechten, die den Friedensprozess nicht mehr aufhalten könne. Trotzdem blieb der Platz vor dem Regierungspalast in Bogotá am 9. April halbleer. Statt Euphorie herrscht 2016 vor allem Frustration. »Ein Tag zum Vergessen«, sagt ein ­Demonstrierender resigniert. »Hoffentlich wird es kein Jahr zum Vergessen.«