Leben wir schon im Postkapitalismus? Zur Kritik der Thesen von Paul Mason

Nächstes Level Postkapitalismus

In seinem neuen Buch verkündet der britische Autor Paul Mason das Ende des Kapitalismus. Seine Thesen über den Eintritt in die Ära des Postkapitalismus durch die digitale Revolution sorgen derzeit für einen kleinen Feuilleton-Hype. Neu daran ist allerdings herzlich wenig.

Nun also Paul Mason. Nach Antonio Negri und Michael Hardt, Naomi Klein, David Graeber und Thomas Piketty wird sein Buch über den »Postkapitalismus« zum alljährlichen linken Diskurstänzchen im Feuilleton bitten dürfen. Eine erste Vorstellung seiner Thesen lockte immerhin bereits vor Erscheinen des Buches etwa 1 200 Besucherinnen und Besucher ins Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Zeit räumte für ein Interview mit dem Journalisten und ehemaligen Trotzkisten gleich die ersten beiden Seiten ihres Feuilletons frei. Auch der obligatorische Marx-Vergleich darf nicht fehlen.
Hatte Paul Krugman 2014 in der New York Times Pikettys Studie über die globale Vermögensungleichheit in leichter Verkehrung des Originaltitels noch als »Das Kapital des 21. Jahrhunderts« gefeiert, so gilt Mason dem britischen Guardian, für den er lange Zeit gearbeitet hat, als »würdiger Nachfolger von Marx«. Immerhin: Dass er das nicht ist und auch nicht sein will, betont der Sohn einer Grundschullehrerin und eines LKW-Fahrers aus dem nordenglischen Leigh selbst. Als »radikaler Sozialdemokrat«, als der er sich versteht, bietet er vielmehr statt einer Kritik der politischen Ökonomie ein »modulares Projektdesign« an, an dem sich »Menschen, Bewegungen und Parteien auf dem Weg zur postkapitalistischen Gesellschaft orientieren können«, wie es im »Guide to Our Future« – so der Originaluntertitel des Buchs – formuliert wird. Einen Masterplan also.
Darin darf nichts fehlen. Auf knapp 370 Seiten – zieht man Fußnotenapparat und Register ab – hastet Mason durch die vergangenen zwei Jahrhunderte: von den Ursprüngen des Kapitalismus und seinen Zyklen über den Aufstieg und Niedergang der Arbeiterbewegung bis hin zum vermeintlich unabwendbaren Ende dieses Produktionsverhältnisses. Es sind die großen Würfe, die das Publikum interessieren. Und so muss fast jedes Schlagwort bedient werden: Lenins Parteitheorie; die Kondratiew-Zyklen; Marx’ Maschinenfragment aus den »Grundrissen«; das Bretton-Woods-System und sein Ende; Rosa Luxemburg und die Management-Phrasen aus den Zeiten vor den platzenden Blasen; 3D-Drucker; der Klimawandel sowie die Geschichte der modernen Kommunikations- und Informationstechnologie vom Telegraphen bis zum Internet.
Die Liste könnte fast beliebig erweitert werden um Aspekte, die letztlich mit den zentralen Thesen des Buchs aber doch nur am Rande zu tun haben. In bester journalistischer Manier bewegen sich die fragmentarischen Betrachtungen überwiegend auf dem Niveau von Wikipedia-Einträgen, die der britische Journalist und Autor so schätzt. Denn das Lexikon ist ihm die wichtigste Antizipation einer kommenden Gesellschaft, die aus dem »Widerspruch zwischen Marktsystemen und einer auf Informationen beruhenden Wirtschaft« entstehen werde, sei der Kapitalismus doch durch das im Internet verfügbare Wissen »an die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit« und Verwertungsmöglichkeiten gestoßen.

»Empire« reloaded?
Wer wollte, konnte dies bereits zu Beginn des Jahrtausends bei Negri und einigen seiner Gefolgsleute lesen.
Mason fehlt allerdings Negris Großspurigkeit. »Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausübt, setzt die immaterielle Arbeit das Potential für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus frei«, hatten Negri und Hardt in »Empire« (2000) angekündigt. Bei Mason, dem Mitglied der Labour Party und Unterstützer von Jeremy Corbyn, klingt das eher realpolitisch: »Die Linke muss wieder lernen, positiv zu handeln: Anstatt nur einzelne Elemente des alten Systems zu verteidigen, muss sie innerhalb des Systems Alternativen entwickeln, die Regierungsmacht zu radikalen Veränderungen nutzen und sich auf den Übergang konzentrieren.«
Zum Glück hat der Weltgeist, der bei Mason ebenso wie einst bei Negri auf den Namen general intellect (Marx) hört, das Erstgenennte schon weitgehend erledigt. Denn bereits jetzt entwickele sich etwas »Dynamischeres« als der Kapitalismus in dessen Schoß, etwas, »das sich fast unbemerkt im alten System entwickelt, irgendwann jedoch so wirkungsvoll wird, dass es der Wirtschaft ein anderes Gesicht gibt und neue Werte, Verhaltensweisen und Normen hervorbringt«. Man errät es sofort – es ist die Informationstechnologie: »Sie neigt spontan dazu« – man beachte den Subjektcharakter – »Märkte aufzulösen, das Eigentum zu zerstören und die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen zu zersetzen.«
Natürlich weiß auch Mason darum, dass die Welt nicht so verfasst ist, wie er sie gerne hätte, und der so häufig zitierte Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnissen sich nicht einfach per Benennung in Wohlgefallen auflösen lässt. Der »Möglichkeit eines unerschöpflichen Angebots an kostenlosen Gütern« stehe ein »System von Monopolen, Banken und Staaten« gegenüber, »die alles tun, damit diese Güter knapp, kommerziell nutzbar und im Privatbesitz bleiben«, heißt es bei Mason. Dies zurückzuweisen, bleibe die Aufgabe von Regierungen, die »postkapitalistische Ziele anstreben«, und die Aufgabe der Linken aller Schattierungen sei es, sie ins Amt zu heben.
Wer Masons Begeisterung für Syriza und Corbyn verstehen will, wird hier fündig. Keinen wie auch immer gearteten Sozialismus fordert er als Regierungsprogramm. Vielmehr klettert Mason zurück in die Frühphase der Entstehung der Arbeiterbewegung: hin zu Ferdinand Lassalle, den er im Buch zwar nicht erwähnt, dessen Ideen aber präsent sind, wie Mason bei der Veranstaltung in Berlin gleich mehrfach eingestand. Nicht nur die Hoffnung, den Staat den Klauen der herrschenden Klassen zu entreißen, verdeutlicht dies. Die Basis von Masons Variante des lassalleanischen »Volksstaats«- ein Begriff, der zentral im etatistischen Denken des Gründers der Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) war- soll die Förderung und Belohnung von »Kooperationen«, aber auch von »Unternehmertum und Erfindergeist« sein, deren Ergebnisse wiederum in die staatlich geschützte Allmende einfließen sollen. In seiner programmatischen Adresse »An die Arbeiter Berlins« hatte Lassalle 1868 Ähnliches durch die Gewährung der »reale(n) Möglichkeit zur Selbsthilfe und Selbstentwicklung« durch den demokratischen Staat angemahnt, die mittels Krediten, »welche den Arbeitern für die Bildung von Produktiv-Assoziationen erforderlich« seien, bewerkstelligt werden sollten. Mason rechnet damit, dass dieser »Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie« noch 100 Jahre andauern könne, verriet er im Zeit-Interview. Immerhin die Legionen, die den Kampf um die Eroberung des Staates ausfechten können, hat er schon im fest im Blick. Der »gebildete und vernetzte Mensch« tritt bei Mason an die Stelle des Proletariats, wie weiland bei Negri und Hardt die Multitude.
Proletariar aller Länder: Es ist kompliziert
Mason, dessen Politisierung in dem letzten großen Gefecht der alten europäischen Arbeiterbewegung – dem britischen Bergarbeiterstreik von 1984/85 – erfolgte, ist die Frustration darüber anzumerken, dass es dem Proletariat nur selten darum gegangen sei, »den Kapitalismus zu stürzen«. Bei allem biographischen Verständnis dafür: Absurd ist die These, dass die Arbeit »ihre zentrale Bedeutung für die Ausbeutung auf der einen und den Widerstand auf der anderen Seite« verloren habe, oder jedenfalls der erste Teil der Behauptung. Und zumindest fraglich ist, was der Solidarität und Widerstand stiftende Zusammenhang ausgerechnet der »vernetzten Individuen« sein soll. Hier geht Mason der Legende von den Facebook-Revolutionen auf den Leim, in denen die Vernetzung nicht Mittel, sondern Selbstzweck gewesen sei. Und er fragt auch nicht, warum die zumeist gescheiterten Revolten der vergangenen Jahre in den Metropolen von Tunis bis Athen, von New York bis Istanbul kein kohärentes Programm der »Transition« (Mason) hervorgebracht haben, das seinem Masterplan eine Basis hätte verschaffen können.
Es sind aber ohnehin weniger die gesellschaftlichen Kämpfe, die Mason interessieren, als vielmehr die Alltagspraxis der »Vervielfältigung einer Person«, die sie »widerstandsfähig gegen Unterdrückung« mache. Begeistert beschreibt er Szenen aus der Londoner U-Bahn, in der »sämtliche Fahrgäste unter 35 Jahren« auf ihren Smartphones herumtippen, sich mit der Welt verbinden, kostenlos Musik hören oder einfach Online-Spiele spielen. Manager und Schulkinder, Shopping-Queen und Musikfreund seien durch »dieselben Bewegungen und dasselbe Maß an Konzentration« verbunden. »Man kann gleichzeitig aussehen wie Supermodel Claudia Schiffer, eine Syriza-Aktivisin sein, eine Tochter und Mutter und im Job gut funktionieren, alles mit Hilfe der Information und Kommunikation der neuen Technologien.« Was zuletzt von Detlef Hartmann in seinem Buch über »Krisen – Kämpfe – Kriege« noch als »unerbittlicher Prozess der Auflösung und Entwertung« und »kapitalistische Bemächtigung und Inwertsetzung« aller gesellschaftlichen Sphären analysiert worden ist, gilt Mason als Emanzipation. »Tatsächlich entsteht der Mensch durch die Informationstechnologie in mancher Hinsicht neu«, folgert er voller Begeisterung. Es fehle lediglich, dass dieses Morgen bereits im Heute sich seines transitorischeren Charakters bewusst werde. »Am Anfang muss das Konzept stehen«, schreibt Mason und bietet sogleich sein eigenes an. Bleibt die Hoffnung, dass dieses spätestens nach dem kleinen Hype auch schon am wieder Ende sein könnte.
Paul Mason: »Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie«. Suhrkamp, Berlin 2016, 26,95 Euro