Das große Schachtheater

Während die beiden WM-Teilnehmer feststehen, wird in der Schachwelt über die Frage gestritten, wer eigentlich das Recht an den Spielzügen hat.

Als die punktgleichen Sergej Karjakin und Fabiano Caruana in der letzten Runde des Moskauer Kandidatenturniers in ihrer direkten Partie den nächsten Herausforderer des Weltmeister Magnus Carlsen ausspielten, hatte der Veranstalter bereits seine Entscheidung getroffen, wen er im November gegen den Norweger würde spielen sehen wollen.
Zwei Stunden vor der Partie gab die Eventfirma Agon, die auch die Vermarktungsrechte an dem WM-Kampf Ende des Jahres hält, eine Pressemitteilung heraus, in der sie die Frage stellte, ob es mit Caruana über 40 Jahre nach dem legendären Bobby Fischer wieder jemand aus Brooklyn schaffen könne, sich für das Match um die Schachkrone zu qualifizieren.
Aus dem Text sprach der kaum verhohlene Wunsch, dass der Amerikaner sich den Turniersieg sichern möge. Schließlich hatten der Schachverband Fide und Agon gemeinsam Anfang März verkündet, dass der kommende Titelkampf in New York stattfinden soll. Und womit ließe sich besser werben und Marketing betreiben als mit einem New Yorker, der in seiner Heimatstadt versucht, den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen zu besiegen?
Es sollte eine Partie für die Schachgeschichtsbücher werden. Sergej Karjakin war vor der Partie im Vorteil. Ihm reichte wahrscheinlich ein Unentschieden und er hatte die weißen Steine. Psychologisch sahen viele Beobachter allerdings Caruana im Vorteil, schließlich hatte er mit Siegen in der Rückrunde erst zu Karjakin aufgeschlossen und galt bei vielen als Turnierfavorit und legitimer Herausforderer Carlsens.
Es entwickelte sich eine Stellung voll dynamischer Ungleichgewichte und beidseitiger Chancen, also all den benötigten Zutaten für einen Sieg mit den schwarzen Steinen. Gerade als sich die beobachtenden Großmeister einig über den schwarzen Vorteil waren, brachte Karjakin ein vollkommen überraschendes Bauernopfer. Und nach einem fast unbemerkten Fehlzug Caruanas nur wenig später noch ein nur von den begleitenden Engines antizipiertes Turmopfer, mit dem er den König seines Gegners bloßlegte und nach einigen genauen Zügen im Mattangriff erlegte.
Mit Sergej Karjakin ist nun ein Spieler Herausforderer Magnus Carlsens geworden, dem man trotz einer großen Anzahl an Erfolgen nicht so recht zutraut, den Titel auch zu gewinnen. Ein norwegischer Schachjournalist twitterte: »Karjakin kann vieles so gut wie Carlsen, aber er muss zeigen, dass es etwas gibt, in dem er besser ist.« Dabei liest sich die Karriere von Karjakin äußerst beeindruckend: Jüngster Großmeister aller Zeiten, Olympiasieger mit der Ukraine, Mannschaftsweltmeister, zweimaliger Weltcupgewinner. Garri Kasparow sah in ihm bereits früh einen Favoriten auf den Weltmeistertitel. Der Russische Schachverband bewegte ihn mit viel Geld und dem Versprechen auf beste Trainingsmöglichkeiten 2009 zum Föderationswechsel. So schien der Weg geebnet, den Titel wieder zurück ins Land des Schachs zu holen, nur konnte Karjakin die Hoffnungen trotz aller Erfolge eben nie komplett erfüllen.
Ob sich diese Chance im November nun wirklich in New York bietet, ist derzeit unklar. Der Weltschachverband fiel schon häufig durch Ankündigungen von Veranstaltungen auf, die er dann heimlich, still und leise ausfallen ließ oder kurzfristig verlegte.
In diesem Fall wäre gut vorstellbar, dass der Kreml interessiert daran ist, das Match in Russland auszutragen. Für den Vermarkter Agon könnte dies die Antwort auf die Frage sein, wie man für den Austragungsort New York Sponsoren generieren will, wenn einer der beiden ein äußerst spröder, wenig medienkompatibler, schlecht Englisch sprechende, leicht stotternder Russe ist.
Fragen, denen die Agon gerne aus dem Wege geht, sind die nach ihrer Abhängigkeit vom Weltschachverband. Auch wenn der Besitzer von Agon, Ilja Merenzon, der das Unternehmen für ein symbolisches Pfund inklusive der millionenschweren WM-Rechte übernahm, gegenüber der FAZ bestritt, nur ein Strohmann des ehemaligen Fide-Präsidenten Kirsan Iljumschinow zu sein, so besteht aber auch hier, wie in der Schachwelt üblich, keinerlei Transparenz.
Den wichtigsten Kampf hat Agon in Moskau jedoch neben den Schachbrettern begonnen. Schachfans sind es seit Jahren gewohnt, die Partien beim Internetportal ihres Vertrauens live zu verfolgen und dabei die Par­tien von Großmeistern kommentiert zu bekommen. Dieser vertrauten Gewohnheit trat Agon nun entgegen. Merenzon beharrt darauf, dass es ein kommerzielles Interesse des Veranstalters an den Zügen gibt, da er nur so in der Lage sei, entsprechend die Sponsoren des Turniers in Szene zu setzen und zu präsentieren. Die Gegenposition hingegen lautet, dass gemachte Züge keinerlei Exklusivität mehr haben, da diese ja in der Welt und somit für jeden ersichtlich sind. Vergleichbar wäre Merenzons Auffassung damit, dass dem Besucher eines Fußballspiels verboten wird, anderen den aktuellen Spielstand mitzuteilen, da nur der Ver­anstalter ein Recht am aktuellen Ergebnis habe.
Mit harten Bandagen versucht Agon, dieses Verbot durchzusetzen: Alle großen Schachportale wurden vor dem Turnier angeschrieben und die Übertragung der Partien wurde untersagt. Gegen vier Seiten, die trotzdem übertrugen, soll nun Klage eingereicht werden. Und auch wenn sich keine der demnächst beklagten Parteien äußern will, so können sie einem möglichen Prozess nach Einschätzung von Experten gelassen entgegen sehen. Ein ähnliches Verfahren vor einigen Jahren endete damit, dass das Gericht ein kommerzielles Interesse an den Zügen verneinte.
Bei einem Gewinn dieses Rechtsstreits durch Agon würde natürlich auch die Frage im Raum stehen, ob nicht die Spieler das Urheberrecht an ihren Zügen haben und wieso dies dem Veranstalter und nicht ihnen zustehen solle. Eine Diskussion, die unter Schachspielern bereits seit vielen Jahren immer wieder geführt wird, schließlich wird mit Schachdatenbanken heutzutage gutes Geld verdient, ohne dass die Spieler daran partizipieren.
Für die Besucher der offiziellen Seite des Kandidatenturniers führte diese ganze Thematik zur absurden Situation, dass sie mit dem Einloggen Allgemeine Geschäftsbedingungen akzeptieren mussten, die einer Verschwiegenheitserklärung gleichkamen und ihnen unter anderem ­untersagten, auch kurz nach Beendigung der Partie die Züge weiterzu­geben – gerade so, als seien Twitter und Facebook noch nicht erfunden. Aber was die Nutzer nach dem Einloggen geboten bekamen, spottete jeder Beschreibung: Ein Kommentator, der radebrechend sich durch die Partien arbeitete, eine Seite, die oft nicht erreichbar war, ein Stream, der häufig abbrach und eine Darstellung der Partien, die Jahre hinter dem liegt, was Seiten wie chess.com oder chess24 als Standard mittlerweile bei Übertragungen bieten.
Ob die offizielle Seite bis zur WM im November dann wirklich voll funktionsfähig ist, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall soll die rechtliche Klärung in Sachen Übertragungsrechte bis zu diesem Zeitpunkt erreicht sein.
Über dem ganzen Schachtheater wird allerdings die spannendste Frage vergessen: Heißt der Schachweltmeister am Ende des Jahres Magnus Carlsen oder Sergej Karjakin?