30 Jahre nach Tschernobyl ist die Welt nicht sicherer geworden

Die permanente Katastrophe

Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich im Atomkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl ein sogenannter Super-GAU. Geändert hat sich seither kaum etwas an der weltweiten Gefahrenlage. Wann kommt die nächste Nuklearkatastrophe?

Als erster Super-GAU (GAU steht für »größter anzunehmender Unfall«) der Geschichte verleitet Tschernobyl dazu, Betrachtungen über denAufstieg und Niedergang der Atomenergie anzustellen. Am 26. April 1986, so meinen viele Zeitgenossen, habe die Nutzung der Atomkraft ihren Zenit überschritten. Und nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima im Jahr 2011 sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis der letzte Meiler abgeschaltet werde. Diese Sicht entspricht der vorherrschenden Stimmung von Selbstzufriedenheit bei den AKW-Gegnern und von Selbstmitleid bei den Befürwortern. Nur noch eine Frage der Zeit? Selbst wenn das richtig wäre, wäre es falsch. Denn diese Zeit ist zu lang.
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zählt derzeit weltweit 444 kommerziell betriebene Reaktoren. Vor 20 Jahren waren es 440, vor zehn Jahren 443. Im selben Zeitraum stieg die installierte elektrische Leistung aller Atomkraftwerke von 348 über 371 auf 386 Gigawatt. Davon wurden durchschnittlich 80 Prozent ab­gerufen, seit Fukushima nur noch etwa 75 Prozent. So weist auch die Gesamtmenge des gelieferten Atomstroms über die Jahre keine großen Schwankungen aus. Ein merklicher Rückgang in den Jahren 2011 und 2012 wird mittlerweile wieder aufgeholt. Zwar geht der nuk­leare Anteil an der Stromerzeugung zurück. Aber das Risiko, das von diesen Anlagen ausgeht, hängt primär von ihrer Gesamtzahl ab. Die hat sich kaum geändert.
Als risikomindernde Faktoren sind die wachsende Erfahrung beim Betrieb der Atomkraftwerke, die gestiegenen Sicherheitsanforderungen und technische Verbesserungen zu nennen, die im Laufe der Zeit eingeführt wurden. Doch die Erneuerung des Atomparks vollzieht sich sehr langsam: Die Anlagen altern schneller, als sie erneuert werden können. Ihre Laufzeiten werden verlängert, das Durchschnittsalter liegt derzeit ungefähr bei 30 Jahren und steigt kontinuierlich an. 80 Atomkraftwerke sind bereits über 40 Jahre alt. Die Entsorgung des Atommülls wird immer dringlicher, während Lösungen immer weiter in die Zukunft verschoben werden. Als wäre das alles nicht schlimm genug, kommt nun noch die Gefahr terroristischer Anschläge hinzu.
Mehr oder weniger bewusst steuert die Welt auf die nächste Atomkatas­trophe zu. Nichts rechtfertigt derzeit die Hoffnung, dass sie sich noch vermeiden ließe. Beeinflussbar ist lediglich, wann und wo sie sich ereignen wird und welche Maßnahmen ergriffen werden, wenn sie eintritt. Wer ­beispielsweise im Umkreis von 30 Kilometern um eine Atomanlage wohnt, hat wohl inzwischen verstanden, dass es sich um eine potentielle Sperrzone handelt. Frühzeitig sollte man überlegen, wann man sich im Falle des Falles aus dieser Umgebung entfernt: Wenn in dem betreffenden Werk ein »ernster Zwischenfall« bekannt gemacht wird, zu dessen Bewältigung »alle verfügbaren Kräfte« aufgeboten werden? Wenn die Bevölkerung auf­gefordert wird, zu Hause zu bleiben und Fenster und Türen zu schließen? Oder erst, wenn die Behörden eine Evakuierung anordnen? Beim Atomunfall entscheidet die Reaktionsschnelligkeit über Leben und Tod. In Tschernobyl erfolgte die Evakuierung der umliegenden Gemeinden viel zu spät. Die Einwohner ließen es mit sich machen, obwohl dort vor allem Beschäftigte des Kraftwerks wohnten, Fachleute, die es besser hätten wissen müssen. In Fukushima wurde ebenfalls um entscheidende Stunden zu spät und zu zögerlich evakuiert.
Als das nukleare Risiko noch »Rest­risiko« hieß – eine Wortschöpfung, die heute allenfalls noch ironisch benutzt wird –, vertraten Politik und Wirtschaft den Standpunkt, die Wahrscheinlichkeit eines GAUs betrage eins pro eine Million Jahre. Die Rechenübung war von Anfang an eine absichtsvolle Täuschung. Die Öffentlichkeit sollte glauben, eine Atomkatastrophe werde sich nur einmal in einer Million Jahren ­ereignen. Die Gemeinde der Eingeweihten bezog sich jedoch auf eine Million Betriebsjahre. Bei über 400 weltweit betriebenen Reaktoren kommt man demnach auf eine Wahrscheinlichkeit von eins zu 2 500 Jahren. Das war mit dem sogenannten Restrisiko tatsächlich gemeint.
Ein zweites Täuschungsmanöver bestand darin, die Bezeichnung GAU, die den größten, aber noch beherrschbarer Unfall meint, in jener »Statistik« kurzerhand durch Super-GAU – für ­einen nicht mehr beherrschbaren Unfall –zu ersetzen. Denn in Harrisburg hatte sich 1979 ein GAU ereignet und in Windscale/Sellafield schon 1957. Nach Tschernobyl war die Wahrscheinlichkeitsrechnung der Atomgemeinde vollständig blamiert, nach Fukushima werden solche Überlegungen einfach nicht mehr angestellt. Warum eigentlich?
Erst mit Jahren oder sogar Jahrzehnten Verspätung wurden weitere Nuklearkatastrophen bekannt. In dieselbe Kategorie wie die Vorfälle von Harrisburg und Windscale/Sellafield – in der Internationalen Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse (INES) eine Kategorie fünf – stuft die IAEA insgesamt sieben Unfälle zwischen 1952 und 1985 ein. Den Unfall in der sowjetischen Wiederaufarbeitungsanlage Kyschtym/Majak von 1957 stuft die IAEA in der INES-Kategorie sechs ein. Würde ein solcher Unfall in der französischen Wiederaufbereitungsanlage von La Hague passieren, stünde Frankreichs Regierung vor der Frage, Paris zu evakuieren. Tschernobyl und Fukushima fallen in die höchste Kategorie sieben.
Das Atomzeitalter zählt somit zehn Ereignisse der INES-Kategorien fünf bis sieben in sieben Jahrzehnten. Damit ist über die Häufigkeit schwerer Atomunfälle im zivilen Sektor alles Wesentliche gesagt. Sie ist, über längere Zeiträume betrachtet, fast schon eine Regelmäßigkeit. Ein Blick auf kürzere Zeiträume hilft jedoch, die aktuelle Situation einzuschätzen und vielleicht einen Trend zu erkennen. Zunächst ist das Thema Fukushima alles andere als erledigt. Für die evakuierten Menschen ist das eine Selbstverständlichkeit, aber in Europa zeigt man für die Nachbeben nur noch wenig Interesse.
In den USA ereignete sich am 14. Februar 2014 in Carlsbad/New Mexico eine Explosion oder Verpuffung in einem Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Ab­fälle, vergleichbar mit der deutschen Schachtanlage Asse. In der »Waste Isolation Pilot Plant« (WIPP) genannten Anlage lagern insgesamt 200 000 Tonnen Abfälle einschließlich fünf Tonnen Plutonium aus alten militärischen Beständen. Eines der Fässer platzte. Es ist unklar, wie viel Strahlung in die Umwelt geriet, aber der Schacht musste geschlossen werden und ist seitdem nicht mehr in Betrieb.
Am 9. April 2014 kam es zu einer unplanmäßigen Abschaltung im AKW Fessenheim. Erst zwei Jahre später wurde das Ausmaß der Krise bekannt. ­Untergeschosse des Reaktorgebäudes standen unter Wasser, die Elektronik war beschädigt, der Reaktor nur noch begrenzt steuerbar. In dieser Situation hielt das Bedienpersonal eine Schnellabschaltung für riskant. Der Reaktor wurde durch Eingabe von Bor in den Primärkreislauf gedrosselt – eine Notfallmaßnahme, die im Betriebshandbuch nicht vorgesehen ist.
Ende 2014 brannte es zweimal im ukrainischen AKW Saporischschja. Die IAEA sah keine Gefahr, aber in polnischen Städten kam es teilweise zu panischen Reaktionen, weil sich Gerüchte über eine Strahlenwolke verbreiteten. Tatsächlich zeigten internationale Messstationen ein Ausschlagen der Werte zu diesem Datum in derselben Region. Der Vorfall weist auf die unvorteilhafte Lage dieses mit sechs Reaktoren ausgestatteten Atomkraftwerks hin, das sich in etwa 100 Kilometer Entfernung zur Frontlinie in der Ostukraine befindet.
Irritierende Meldungen gab es im Oktober und November 2014 aus Frankreich: Drohnen überflogen praktisch alle Nuklearanlagen. Insgesamt gab es drei Dutzend solcher Vorfälle, oft mehrere an einem Tag. Die Urheber wurden nicht gefunden, die offenbar koordinierte Aktion bleibt mysteriös. Dafür schickte die belgische Regierung unmittelbar nach den Anschlägen von Brüssel alle externen Mitarbeiter von Atomkraftwerken erstmal nach Hause. Diese Vorsichtsmaßnahme habe aber, so versichert man treuherzig, nichts damit zu tun gehabt, dass ein belgischer Nuklearingenieur von Jihadisten observiert worden war.
Auch Tschernobyl gibt 30 Jahre nach dem Super-GAU keine Ruhe. Das unabhängige französische Labor CRIIRAD untersuchte im Sommer 2015 Bodenproben aus einem Naturpark in den südfranzösischen Alpen und fand an einigen Plätzen in 2 500 Metern Höhe über 100 000 Becquerel pro Kilogramm. Dort hatte es am 27. April 1986 geregnet. Der Niederschlag bildete eine Gletscherschicht. Die Gletscher schmelzen infolge der Klimaerwärmung ab. So kommt das Caesium den Berg herunter. Nach Erreichen seiner Halbwertszeit, eben 30 Jahre, strahlt es nur noch halb so stark.